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nmz-archiv
nmz 2000/10 | Seite 16
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Portrait
Vom Mut, einen steinigen Weg zu gehen
Mit erfrischender Selbstverständlichkeit positioniert sich
das Henschel Quartett auf einem hart umkämpften Markt
Das Henschel Quartett ist jung und existiert doch schon seit über
zehn Jahren. Wettbewerbsgewinnen in Salzburg, Evian, Banff und Osaka
folgte schnell eine steile Konzertkarriere. Heute gibt das Ensemble
jährlich rund 80 Konzerte und behauptet sich neben Namen wie
Leipziger Streichquartett, Artemis, Auryn, Hagen, Petersen oder
Rosamunde Quartett im internationalen Streichquartettmarkt.
Ich muss Euch eine Nase geben, sagte der Hamburger Agent
Rolf Sudbrack am Anfang der gemeinsamen Arbeit zum Quartett, diese
Nase kann nicht riesengroß und gleichzeitig zierlich sein.
Ein Erkennungszeichen? Freilich, das ist das eine; ein zweites:
Die Nase muss ihren Weg finden, sie muss riechen lernen und
wie lernt man riechen? Nicht mit Nischenkultur, zeitgenössischen
Extravaganzen und Crossover, sondern in der harten Schule des traditionellen
Repertoires, nach dessen Beherrschung man sich erst auf spezielle
Vorlieben, auf ein wirklich eigenes Profil konzentrieren kann. Und
ein dritter Punkt kommt dazu: In dieser harten Schule des traditionellen
Repertoires sind relativ klare Kriterien vorhanden; das Ensemble
wird beurteilbar. Die Programme des Henschel Quartetts stehen so
in der klassisch-romantischen Tradition und reichen von Beethoven
bis Bartók. Sie sind überlegt, fein abgestimmt und beschreiten
immer wieder auch neue Wege. Namen wie Alberto Ginastera, Chris
Theofanidis, Vagn Holmboe oder die Zusammenarbeit mit der jungen
amerikanischen Komponistin Heather Anne Schmidt sind dabei auf selbstverständliche
Weise integriert. Immer wieder spielt das Henschel Quartett auch
in erweiterten Besetzungen zusammen mit Musikern wie Radovan Vlatkovic,
Eduard Brunner, Hariolf Schlichtig oder im Oktett mit dem Auryn,
Minguet, Camerata oder Panocha Quartett.
Fürs Goethe Institut spielte das Quartett in Südamerika. Foto:
Hugo Jehle
Was hat dem Henschel Quartett auf diesem Weg geholfen, was bedeuten
Wettbewerbe, CD-Einspielungen, was sind die Erwartungen an Agenten,
wie wird eine Quartett-Karriere aufgebaut? Begleitet von der Arbeit
mit dem Amadeus Quartett und Professor Franz Beyer, von Begegnungen
mit Mitgliedern des Melos, des Alban Berg und Cherubini Quartetts
fiel die Entscheidung, ausschließlich Quartett zu spielen,
sehr früh; so früh, dass im Interesse der vier Musiker
allein die Entwicklung des Ensembles stehen konnte. In den ersten
Jahren hatten Wettbewerbe ein großes Gewicht. Sie waren Trainingslager
und Starthilfe zugleich.
Wettbewerbsgewinne waren ein Steinchen im Mosaik der Karriere des
Henschel Quartetts. Ein anderes Steinchen waren und sind CD-Einspielungen.
Sie sind die klingende Visitenkarte des Ensembles. Auch hier betreibt
das Ensemble keine Nischenpolitik. Mit Arte Nova hat das Henschel
Quartett seit einiger Zeit ein Label gefunden, das einen weltweit
ausgezeichneten Vertrieb hat und das den Musikern die Freiheit gibt,
die Werke aufzunehmen, die ihnen am Herzen liegen. Neben einer Einspielung
mit Streichquartetten von Franz Schubert erschien vor kurzem eine
CD mit Streichquartetten des argentinischen Komponisten Alberto
Ginastera.
Wettbewerbe und CD-Einspielungen, das ist die eine Seite, die andere
ist die der Zusammenarbeit mit Veranstaltern, Rundfunk- und Fernsehanstalten
und natürlich mit Agenturen in verschiedenen Ländern.
Das Henschel Quartett gibt jährlich rund 80 Konzerte, davon
ungefähr die Hälfte in Deutschland. Die Liste der Länder,
in denen das Ensemble konzertiert, ist so lang wie die Liste der
Rundfunk- und Fernsehanstalten, mit denen die Musiker schon zusammengearbeitet
haben. Ein besonders wichtiger Auslandsmarkt für das Henschel
Quartett ist Japan, wo der nationale Sender NHK vor einigen Monaten
eine einstündige Fernsehsendung produziert hat. 80 Konzerte
im Jahr, das bedeutet jeden vierten bis fünften Tag ein Konzert,
oder von Agenten und Veranstaltern eng geplante Tourneezeiten.
Eine Konzertreise der etwas anderen Art hat das Henschel Quartett
in diesem Jahr im Auftrag des Goethe-Instituts durch Südamerika
unternommen: zum Bachjahr ein kontemplatives, anspruchsvolles Programm
mit Werken von Bach und Mozart an acht Orten, an denen der kommerzielle
Kammermusikmarkt (bisher) nicht funktioniert und aufgrund der wirtschaftlichen
Situation außerhalb der Metropolen finanziell nicht tragfähig
ist. Freier Eintritt, ungemein begeisterungsfähiges Publikum,
freudige Erwartung ohne zurückgelehnte Erwartungshaltung
machen die Konzerte auch für die Musiker zu einem ungewohnten
Erlebnis, bei dem sich das Gefühl der Genugtuung, der vollen
Berechtigung einstellt für das, was man tut und was Musik vermitteln
kann. Es entzieht sich fast der Vorstellung unseres europäischen
Konzertlebens, dass ein Konzert eines Streichquartetts unter anderem
mit Bachs Kunst der Fuge, Bearbeitungen von zwei Choralvorspielen,
Mozarts Adagio und Fuge in der Kathedarale einer mittelgroßen
südamerikanischen Stadt nicht alle Zuhörer fassen kann
und so das Konzert auf Großleinwand nach draußen live
übertragen werden muss und ein Publikum, im Glauben entrückt,
einem Streichquartett lauscht und sich bekreuzigt. Es bleibt zu
hoffen, dass im Zuge der Diskussion um Fusionen in der auswärtigen
Musikpolitik die Möglichkeiten und Chancen dieser Arbeit nicht
aus dem Blick geraten.
Ausbildung und Wettbewerbe waren die ersten Schritte, CD-Einspielungen,
Agenten, Veranstalter, Rundfunk- und Fernsehanstalten waren weitere
Aspekte auf dem Weg zu einer internationalen Karriere im Musikmarkt.
Musik auf höchstem Niveau erzählen, das Publikum fesseln
auch damit hat der Erfolg des Henschel Quartetts zu tun.
Kathrin Hauser-Schmolck
Diskografie
Alberto Ginastera: Streichquartette Nr. 1 und 2 (Arte Nova/BMG
74321 72125 2)
Franz Schubert: Streichquartette D 112 und D 810 (Arte Nova/BMG
74321 59220 2)
Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzerte KV 413, 414 und 415
in der Fassung für Klavier und Streichquartett, Klavier:
Patrick Dechorgnat (EMI Classics Debut 7243 5 72525
2 2)
Felix Mendelssohn Bartholdy: Streichquartette op. 44 Nr. 1
und 2 (MED 72.161)