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nmz-archiv
nmz 2000/12 | Seite 17
49. Jahrgang | Dez./Jan.
Phono
Wege und Irrwege
Neue Tendenzen der Vermarktung
Zwei Tendenzen sind in den letzten Jahren im Bereich der internationalen
Schallplattenproduktion zu beobachten. Zum einen haben besonders
die großen Firmen auf sinkende Verkaufszahlen reagiert
und in diesem Zusammenhang auch auf ein viel zu breit gefächertes,
zum bedeutenden Teil völlig uninteressantes Neuheitenrepertoire!
, zum anderen sind sie emsig darangegangen, ihre alten Bestände
zu sichten und dem Musikfreund in preisgünstigen Serien gleichsam
schmackhaft zu gestalten.
Zur
Tendenz Nummer eins ist hinzuzufügen, dass sich viele der exklusiven
oder berechnend von Label zu Label springenden Künstler noch
bis in jüngste Zeit wenig Gedanken gemacht haben, ob ihre medialen
Arbeitgeber auch wirklich das Geld hereinspielten, was ihre Aufnahmen
und ihre Wenigkeit persönlich kosteten. Immer wieder wurden
so etwa bei Sony, als man mit Gewalt der Konkurrenz den Rang
ablaufen wollte und entsprechend Stars einkaufte Verträge
abgeschlossen, die den Solisten und Ensembles zahlreiche Produktionen
und gute Honorare garantierten, indes im Schallplattenladen und
im Fachversand erhebliche Einbußen verzeichneten. Selbstverständlich
hing und hängt dies nicht nur mit einem gewissen Abnutzungseffekt
selbst bedeutender Künstlerpersönlichkeiten zusammen.
Vor allem die etwas älteren Musikfreunde haben sich längst
mit den wichtigsten Titeln des sogenannten Klassik-Repertoires eingedeckt.
Es macht selbst für spezialisierte Freizeithörer kaum
noch Sinn, sich die vierte, fünfte Version von Beethovens Emperor-Klavierkonzert
zu besorgen, es sei denn, Carlos Kleiber hätte sich erbötig
gezeigt, den Stab zu führen und womöglich noch Swiatoslav
Richter überreden können, im hohen Alter jene Skepsis
gegenüber dem populären Stück zu überwinden,
für die ihn viele Bewunderer lieben, andere wiederum mit liebevoller
Schelte bedacht haben.
Selektions- und Kaufverhalten
Der Kunde also darf als versorgt betrachtet werden. So folgt er
in seinem Selektions- und Kaufverhalten einem ganz einfachen Prinzip:
Er nimmt jene Produktionen mit Freude zur Kenntnis, auf die man
eine Zeit lang mit großer Spannung wartet. Ein riesiger Plattenausstoß
jeden Monat mit Opern-, Lied-, Kammermusik-, Konzert- und dann noch
einigen Crossover-Veröffentlichungen hingegen lässt den
Konsumenten abstumpfen, zumal er ja wie schon erwähnt
schon längst einige diskografische Sternstunden sein
eigen nennt. Mit ihnen ist er aufgewachsen, zu ihnen und zu den
betreffenden Interpreten hat er eine Beziehung aufgebaut. Er wird
dem alten Furtwängler, dem unvergleichlichen Fritz Wunderlich
verbunden bleiben. Er wird der unnachahmliche Maria Callas, den
unvergänglichen Richter-Aufnahmen der 60er-Jahre und Arturo
Benedetti Michelangelis Einspielung des g-Moll-Konzerts von Rachmaninoff
nicht untreu werden, nur weil bei Philips oder bei RCA heftig mit
der Reklamefahne des Sensationellen gewinkt wird, wenn wieder einmal
ein Jahrhunderttalent auf seine steile, aber zumeist sehr kurze
Erfolgsstrecke katapultiert wird. Auf dem Sektor Repertoire-Erweiterung
gemeint ist die Ausdehnung des literarischen Spektrums bis
weit hinter das musiklexikalische Komma haben die potenten
Firmen unterdessen eine erstaunliche Entwicklung übersehen,
wenn nicht gar verschlafen. Man muss ihnen dabei zugute halten,
dass sie ihren führenden Interpreten nur in Ausnahmefällen
Nebenschöpfungen schmackhaft machen konnten.
Dem oben skizzierten Musikfreund mit gut gefüllter Diskografie
stand jedoch in den letzten Jahren mehr und mehr der Sinn nach Horizonterweiterung.
Er wollte sich stärker über parallele musikgeschichtliche
Entwicklungen, über vergessene, unterschätzte, zu Unrecht
abgelehnte Stücke informieren. Und dabei kam es ihm gar nicht
so sehr darauf an, große Namen auf der Plattenhülle zu
lesen. Solide, zuverlässige Ensembles, Sänger und Instrumentalisten
genügten vollkommen, abgesichert durch gründliche Instruktionen
in den Begleitheften. Diese Entwicklung hat sich bis zum heutigen
Tag so intensiviert, dass zwei Produzenten nämlich Naxos
und Arte Nova mit aller Kraft die Katalogerweiterung favorisieren.
In deren Direktionen geht man davon aus, dass der Musikfreund neuerer
Prägung also längst versorgt mit den bedeutenden
Leistungen der Plattenbranche vor allem nach Kriterien der
Repertoireerkundung ordert. Wohl ihm, wenn er mit Seltenheiten,
mit Erstaufnahmen nach Hause geht und zum Sondertarif auch noch
gute, zuweilen sogar herausragende Interpretationen sein eigen nennen
darf, wie das bei Arte Nova zuweilen, bei Naxos erstaunlich häufig
der Fall ist.
Reizklima
In diesem Reizklima konservativer Künstlertreue und literarischen
Abenteuertums mögen die Strategen der großen, begreiflicherweise
in ihrem marktspezifischen Taktieren schwerfälligeren Firmen
erkannt haben, wie kostengünstig sie ihr altes Repertoire aktivieren
könnten. Und dies sicher auch im Hinblick auf jüngere
Käuferschichten, denn ihnen kann man auf diesem Weg nicht nur
ein wenig Nostalgie unter die Ohren reiben, sondern auch zeigen,
zu welchen Leistungen Künstler und Industrie in den ersten
drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, also an der Schwelle
von der Mono- zur Stereo-Epoche, fähig waren. Die Idee, den
entsprechenden CD-Publikationen das altertümliche Outfit der
alten Langspielplatten wenigstens in stilisierter grafischer Aufmachung
mitzugeben, dürfte bei weiten Kreisen Anklang gefunden haben.
So ähneln die CDs der Originals-Serie (Deutsche Grammophon)
miniaturisierten Langspielplatten. Auf der Cover-Vorderseite wird
man an die Erstausgabe der betreffenden Aufnahme erinnert. Für
viele Hörer scheint der Hinweis auf die alte Langspielplatte
auch insofern vertrauensbildend zu sein, als sie der kühlen,
sterilen Compact Disc immer wieder mit Misstrauen begegnen. Die
Musik so das stereotype Argument werde zerhackt, aufgespalten,
während die LP ein harmonischeres, organischeres Hörerleben
garantiere, ungeachtet der Laufgeräusche und der unvermeidlichen
Abnutzung des Abspielgeräts und der Vinylscheiben selber. Ausführliche
Tests mit Verfechtern dieser Überzeugungen haben gezeigt, dass
sie sich offenbar von alten Hörgewohnheiten und den damit verbundenen
Wunschvorstellungen leiten lassen. Ähnlich wie die stampfende,
lebende Dampflokomotive im Vergleich zur mechanisch uninteressanten
E-Lok, so scheint auch die komplizierte Beweglichkeit des herkömmlichen
Plattenspielers eine interessantere, ja mehr noch: eine dem Menschen
angemessenere Hörerfahrung zu ermöglichen. Die Publikationen
der Originals-Reihe und in Konkurrenz zu diesen DG-Editionen etwa
auch die Legacy-Alben bei Teldec fördern solche Vergangenheitsverklärungen
auf der abspieltechnischen Ebene, sie ermöglichen aber auch
ganz einfach, ein zumeist beschädigtes Plattenrepertoire durch
moderne Software zu ersetzen.
Zum Zuge kommt bei den Originals alles, was bei der Deutschen Grammophon
Rang und Namen hat. Reichlich vertreten natürlich die Dirigenten
Herbert von Karajan, Karl Böhm, Ferenc Fricsay, Lorin Maazel,
Carlo Maria Giulini und Carlos Kleiber, aber auch eine Kapazität
wie Igor Markevitch, dessen Leistungen aus den 50er-Jahren bei einem
breiten Publikum in Vergessenheit geraten sind, erhält hier
die Chancen medialer Auferstehung. Für den Fachmann sind begreiflicherweise
solche Originals von Reiz, die Mono- und frühe Stereo-Aufnahmen
enthalten, die bislang noch nicht auf CD herausgekommen sind.
Im Wettstreit mit den Originals der Deutschen Grammophon liegt
die Sony-Reihe Essential Classics mit wertvollen Programmen der
großen CBS-Künstler von einst (darunter Zino Francescatti,
Leon Fleisher, Bruno Walter, George Szell). Doch man beschränkt
sich bei den maßgebenden Firmen im Wiederaufbereitungslabor
längst nicht auf historisierende Verpackung kostbarer musikalischer
Inhalte. Eine Fülle von Billigpreispaketen sporadisch
ergänzt füllt die Kataloge und Regale der Geschäfte,
sodass man wirklich den Eindruck gewinnt, die Produzenten bereiteten
mit ihren Repliken den aktuellen Neuerscheinungen mehr Konkurrenz
als den Künstlern und der Finanzbuchhaltung eigentlich lieb
sein könne. Bei Teldec ist es eine Digital Experience-Serie,
bei der Schwester-Firma Erato heisst sie Classical Experience. Decca
wirbt mit Projekten wie Double Decca und Boucquet um den Hörer,
die Deutsche Grammophon offeriert ihre gängigen, zum Teil aber
auch Originals-Titel unter dem Motto Galleria.