[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/03 | Seite 32
50. Jahrgang | März
Arbeitskreis
Musik in der Jugend
Lauschen und Singen bei Bach in Leipzig
Ein Beispiel der musikalischen Exkursionen beim AMJ
Res severa verum gaudium steht in großen Bronzelettern
an der Stirnwand des Neuen Gewandhauses zu Leipzig. Während
eines langen Konzertes kann man schon mal in Versuchung kommen,
die versunkenen Lateinkenntnisse für eine passende Übersetzung
zusammenzukramen. Ist gemeint: Wahre Freude ist eine ernste
Angelegenheit? Oder: Erst wenn es ernst wird, macht
es richtig Spaß? Oder: E-Musik ist die wahre U-Musik?
Jedenfalls ist es eine klare Absage an die Wertmaßstäbe
einer Spaßgesellschaft, in der jeder Ernst nur stört.
Für alle, die Chormusik betreiben, ist das nichts Neues: Wenn
etwas, zum Beispiel gemeinsames Singen, richtig Spaß machen
soll, muss man ernsthaft bei der Sache sein. So auch bei der Singwoche
mit Prof. Andreas Göpfert inklusive Bachfest in Leipzig,
bei der sich ein Chor von über 50 Teilnehmern zusammengefunden
hatte, um einerseits mit Andreas Göpfert ein kleines, aber
anspruchsvolles A-cappella-Programm einzustudieren und andererseits
so intensiv wie möglich Bach 2000 in Leipzig mitzuerleben.
Auf drei Ebenen mischten sich in dieser Woche die Res severa
und das Gaudium: bei den Chorproben, beim Erleben der
Stadt Leipzig und natürlich bei den Veranstaltungen
des Bachfestes.
Verum Gaudium
Das Singen: Eine wahre Freude, Verum Gaudium, war es offenbar
für Andreas Göpfert, einen so günstig zusammengesetzten
Chor vorzufinden, dass er zum Beispiel bei Bachs Geist
das Notenstudium überspringen, gleich an die Feinarbeit gehen
und insgesamt auf konzentrierte Probenarbeit rechnen konnte
was einen (vereinzelten!) Zornesausbruch des Maestro nicht ausschloss,
als eines Morgens das am Vortag Errungene wieder versackt war: Res
Severa...! Durch das eigene Singen erhielten wir Einblick in das
Schaffen von Thomaskantoren aus vier Jahrhunderten, von Johann Hermann
Schein bis Kurt Thomas und genossen dabei Chorarbeit vom
Feinsten! Drei der einstudierten Motetten wurden dann im Gottesdienst
der Michaeliskirche am Leipziger Nordplatz gesungen. Chor und Dirigent
nahmen das Lob der Gemeinde für eine gelungene Leistung (und
das in so kurzer Zeit) gern entgegen.
Res Severa
Der Chor hieß übrigens in einem der Programmblätter
gesamtdeutscher Projektchor; und das schon lange totgeglaubte
Adjektiv rief den ganz überwiegend aus dem Westen kommenden
Teilnehmern die deutsche Teilung noch einmal ins Gedächtnis:
Ist sie wirklich schon Vergangenheit? Res Severa!
Die Stadt Leipzig: Beim Durchstreifen der Innenstadt von Leipzig
konnten die Teilnehmer der Singwoche mühelos den Eindruck gewinnen,
dass diese Stadt ihr Bestes gefunden hat. Golden glänzen
die Ornamente am Bankhaus neben der Thomaskirche, die Messehöfe
sind einer schöner als der andere (Wer spricht noch von Jürgen
Schneider?! Geld stinkt nicht!), der Bahnhof ist eine einzige Pracht,
in den Straßencafés sitzen die Leute vor gigantischen
Eisbechern und scheinen durchweg glücklich und zufrieden. Es
ist unmöglich, sich der positiven Stimmung zu entziehen, die
diese Stadt ausstrahlt. Verum Gaudium. Alles sieht nach dauerhaftem
Wohlstand aus. Aber wer genauer hinsieht und -hört, merkt:
die Verletzungen der Vergangenheit sind längst nicht geheilt,
und neue sind hinzugekommen. Was wird zum Beispiel aus dem Weisheitszahn,
dem Universitätshochhaus, für das die älteste Kirche
Leipzigs 1960 in die Luft gesprengt wurde? Und die deprimierend
verfallenen Wohnpaläste der Jahrhundertwende, die in fast jeder
Straße die Reihen der renovierten Fassaden unterbrechen und
die vor der Wende immerhin noch bewohnbar waren: Sie gammeln seit
zehn Jahren wegen ungeklärter Besitzverhältnisse
dem Einsturz entgegen, ebenso wie die Industrieanlagen am Heyne-Kanal.
Was wird die Zukunft der Stadt bestimmen: Geld oder
Gerechtigkeit? Wer sich an einem Nachmittag der Singwoche
die historische Last Leipzigs (und der gesamten ehemaligen DDR und
damit ganz Deutschlands) vergegenwärtigen wollte, hatte dazu
reichlich Gelegenheit im neuen Zeitgeschichtlichen Forum
am Naschmarkt oder in der EXPO-Ausstellung zu den Monaten der Wende
in Leipzig im Hauptbahnhof. Wie vieles davon hatte man schon vergessen!
Auch hier also auf Schritt und Tritt Gaudium neben Res Severa!
Bach 2000
Und dann: BACH 2000, und wir als Konsumenten mittendrin! Der Veranstaltungsüberblick
füllt über zwanzig Seiten im dicken Bachfest-Buch,
und entsprechend verliefen sich die Singwochen-Teilnehmer im Verlauf
der Nachmittage und Abende. Nur bei den großen Konzerten,
zu denen wir Karten vorbestellt hatten, trafen wir uns abends in
größerer Zahl und im feinen Zwirn als aufmerksames Konzertpublikum
wieder. Empörend, wie in der Presse Georg Christoph Billers
(und des Thomanerchors) so beeindruckende h-Moll-Messe heruntergemacht
wurde! Und erstaunlich schlecht, der Mendelssohn-Abend in der Nikolaikirche!
Und wie fand man denn die Dirigentin des Weltjugendorchesters im
Gewandhaus? Und das Credo von Penderecki im Abschlusskonzert
sagenhaft!... jede Menge Genuss und jede Menge Gespräche
darüber (ernsthafte natürlich: Res Severa!). Wer gegen
Mitternacht immer noch nicht genug hatte, ging zum Jazz in die Moritzbastei
und konnte dort, wenn er Glück hatte, Variationen mal nicht
über B-A-C-H, sondern über BASF hören.
Verum Gaudium! Nach dem ausgewiesenen Höhepunkt des Bachfestes
am Freitag, 28. Juli (Bachs Sterbedatum vor 250 Jahren) hatte man
die d-Moll-Toccata so oft und in so vielen Versionen gehört
von früh um sieben an der Orgel der Thomaskirche bis
lange nach Mitternacht unterm Regenschirm bei Open-Air Swingin
Bach auf dem Marktplatz , dass man dem Thomaskantor
allmählich die Ruhe im Grabe zu gönnen begann.
Danke J.S.B.
Sein Grab soll zum Schluss erwähnt werden: wie wunderschön
und geschmackvoll war das geschmückt etwas ganz anderes
als die offiziellen Kränze draußen vor dem Bach-Denkmal!
Vielen von uns wurde beim Betrachten der schlichten Girlande aus
Grün und dunkelroten Hortensien noch einmal richtig bewusst,
wem wir die Erlebnisse dieser besonderen Leipziger Singwoche verdankten.
Danke, J.S.B.!