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nmz-archiv
nmz 2001/03 | Seite 41
50. Jahrgang | März
Oper
& Konzert
Hardcore-Klezmer mit internationalem Flair
Seit zehn Jahren gibt es den Leuchtturm im jüdischen
Gemeindezentrum in Odessa
Ein Turm ist Migdal nicht, eher ein ehemaliges
Schulgebäude in einem der vielen Hinterhöfe von Odessas
pulsierender Altstadt. Hat man den Zugang zur Ulitza Malaya Arnautskaya
46a gefunden, stößt man zuerst auf eine große Tafel,
die auf Hebräisch und Englisch verdeutlicht, dass hier das
Ukrainische Zentrum der Opfer des Naziterrors ist.
Doch das Jüdische Gemeindezentrum ist einiges mehr, ein Mittelding
zwischen Jugend- und Kulturzentrum und Volkshochschule. Hier gibt
es Computerkurse, Kindergruppen, eine Bibliothek und anderes, von
der Leiterin Kira Verkhovskaya und ihren Mitarbeiterinnen nicht
zuletzt mit Unterstützung aus den USA zusammengetragen. Der
deutsche Besucher (blond) wird freundlich begrüßt und
so lange weiter gereicht, bis eine Englisch Sprechende gefunden
ist und Tee anbietet. Ja, morgen Mittag ist die erste Musikprobe
nach den Ferien, natürlich kann man zuhören. Migdalor
nämlich, der Leuchtturm, ist das halbprofessionelle Musiktheater
der Jüdischen Gemeinde von Odessa, wiederum unter der Leitung
der Kira Verkhovskaya. Kira ist sauer. Der Klarinettist ist noch
im Urlaub, und der zweite Keyboarder kommt zu spät. Doch dann
geht für eine gute Stunde ziemlich die Post ab, Kira probt
mit vier weiteren Sängerinnen offenbar quer durchs Repertoire
auf Jiddisch, Hebräisch, Englisch, Russisch und Ukrainisch
(was manche russisch Aufgewachsene nur für einen albernen Dialekt
halten).
Migdalor-Sängerinnen
während eine Probe.
Foto: Ulrichs
Nochmal! Der fantastische Schlagzeuger hat das Tempo zu schnell
angezogen. Der hochvirtuose Geiger ist ein Star für sich, und
nachdem man sich zwischendurch über leicht gefühlsduselige
Popklänge gewundert hat, greifen die Keyboarder zum Blech.
Während einer Rauchpause (!) für die Sängerinnen
schmettern sie Hardcore-Klezmermusik, die kurzfristig weitere Neugierige
hereinlockt.
Zusammen mit Tänzern und Schauspielern zählt Migdalor
siebzehn Mitwirkende. Seit 1991 hat man rund 500 Vorstellungen mit
unterschiedlichen Programmen gegeben: Jiddische Folklore, Hochzeitsriten
und vieles andere. Migdalor war auch schon in Berlin und Leverkusen:
Do you know Manfred Lemm? Natürlich, das ist der
mit der Mordechai-Gebirtig-Gesamtausgabe. Und Isaak Loberan, den
jüdischen Wiener Musiker? Von dem habe ich den Tipp.
Wenn die Welt auch klein scheint und im schönen Odessa überall
amerikanische Brause serviert wird: ein ukrainisches Visum gibt
es nur auf Einladung (der Unterzeichnete kann helfen: WUlrichs@aol.com)
oder mit Hotelbuchung, die ukrainischen Grenzer verlangen garantiert
Schtraff, vulgo Strafe alias Bestechung in Dollari
für irgendein angebliches Vergehen, und am Bahnhof bieten sich
Männer an, die einem die Fahrkarte für den vierfachen
Preis besorgen.
Aber das Jüdische Zentrum atmet Internationalismus. In den
Fluren hängen Fotos von Sommerlagern, amerikanischen Freunden,
vom Jüdischen Weltkongress, in der Bibliothek findet sich gar
ein hebräisch-englisches Lexikon. Irgendwann wird es auch ein
richtiges Theatergebäude geben, wofür man freilich auf
internationale Unterstützung angewiesen ist.
Wer nicht das Abenteuer einer Reise nach Odessa auf sich nehmen
mag, kann Migdalor trotzdem zumindest hören.
Dafür gibt es die CD Jewish Wedding (1995, 10
Dollar) und die Kassette Populyarnie Evreïskie Melodii
(Populäre jüdische Weisen, teilweise live, 2000, 1 Dollar).
Was das Porto kostet und wie man bezahlt, erfährt man per E-Mail
(migdal@tm.odessa.ua).