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nmz-archiv
nmz 2001/03 | Seite 37 ff.
50. Jahrgang | März
Oper
& Konzert
Knall, Getöse, Blitz und Splitter, Riss und Glanz
Stuttgarts Eclat-Festival für Neue Musik im
Jahre 2001 Siebzehn Uraufführungen in dreizehn Konzerten
Spricht der Musikinteressierte von Donaueschingen oder Witten,
weiß das musikalische Gegenüber, was gemeint ist: die
Tage Neuer Musik, die sich mit den beiden Städtenamen verbinden.
Sagt der Musikfreund Stuttgart, weiß der Musik-Gesprächspartner
nicht unbedingt, worauf er den Ortsnamen beziehen soll. Vielleicht
auf das dreimal als Oper des Jahres ausgezeichnete Musiktheater?
Oder auf das berühmte Ballett?
Wanderlust: Wilhelm
Bruck und Theodor Ross präparieren ihre Gitarren für
die Aufführung von Thomas Witzmanns Stück.
Foto: Charlotte Oswald
Die Tage für Neue Musik Stuttgart führten
neben den im Sonnenlicht glänzenden Instituten ein fast bescheidenes
Schattendasein, und auch die Avantgarde-Apologeten, die Jahr für
Jahr zur Donauquelle der neuen Musik pilgern, fanden eher vereinzelt
den Weg in die schwäbische Metropole was natürlich
auch auf Uninformiertheit beruhte: die Programme der Stuttgarter
Tage für Neue Musik boten in den mehr als zwei Jahrzehnten,
die das Avantgarde-Festival existiert, meist höchst anspruchsvolle
Uraufführungen zu oft weit gespannten Themen. Die Schlagschatten,
die Donaueschingen oder Witten warfen, haben diese Qualitäten
häufig verdeckt. Hans-Peter Jahn, langjähriger Leiter
der Neue-Musik-Tage und in dieser Funktion Nachfolger von Clytus
Gottwald, zerschnitt vor vier Jahren den Grauschleier, der über
den Stuttgarter Musica-Nova-Tagen zu liegen schien. Ein neuer Titel
für die Tage Neuer Musik Stuttgart sollte das Wunder bewirken,
und er bewirkte es: Eclat nennt sich nun das mehrtägige
Festival, und das französisch-deutsche Großwörterbuch
bietet als Übersetzung für das Wort gleich im Dutzend
Bedeutungen an, die Hans-Peter Jahn seinerzeit vor vier Jahren forsch
und optimistisch für sein Avantgarde-Treffen komplett übernahm:
Splitter, Span, Knall, Getöse, Lichtblitz, Spalt, Riss, Skandal,
Aufsehen, Ärgernis, Helligkeit, Glanz, Pracht, Herrlichkeit,
Berühmtheit, Frische. Dem Besucher und Zuhörer der Musiktage
bietet sich dabei ein Spiel an: Im Programm und in den Konzerten
ein neues oder altes Werk auszuspähen und dieses einer der
oben genannten Bedeutungen zuzuordnen. Bei siebzehn Uraufführungen
in dreizehn Konzerten sollte es nicht schwer fallen, alle Begriffe
zu besetzen denkt man. Doch die Zeit der großen Skandale
in der Neuen Musik sind wohl vorüber.
Auch Pracht und Herrlichkeit erscheinen verbal zu pompös für
neue Klänge, doch Klang-Splitter und Span, Pauken-Knall
und Cluster-Getöse, Spalt-Klänge, Bläser-(Licht)-Blitze,
Risse im Klangbild können unverändert für Aufsehen,
sogar Ärgernis sorgen. Auch Helligkeit und Glanz fehlten diesmal
keineswegs, und dass Berühmtheit Frische nicht ausschließt,
dafür legte der älteste der beim diesjährigen Eclat-Festival
beteiligten Komponisten, der 1922 in Basel geborene Jacques Wildberger,
beredt Zeugnis ab. Wildbergers Tempus Cadendi Tempus
Sperandi, eine Kantate für gemischten Chor und sechs
Instrumente, auf Anregung Heinz Holligers geschrieben, vertont
vier schwierige, komplexe, gleichsam nach innen gerichtete Gedichte:
Hyperions Schicksalslied von Hölderlin, Celans
Tenebrae und Niemandsrose sowie Erich Frieds
Hölderlin an Sinclair. Es sind keine Vertonungen
im traditionellen Sinn, vielmehr Dialoge zwischen Text und Musik.
Kontrapunktisches, gesprochenes Wort, vokale Deklamation, Flüstern,
ostinate Rhythmen, Monotonien durchdringen die Gedichte, steigern
deren Expression, in dem sie die Gestik der Vorlagen in komponierte
musikalische Gestik überführen. Ein Werk, nobel in seiner
distinkten Haltung, erfüllt von einem gebändigten Ausdruck.
Im starken Beifall für Werk und Aufführung schwang der
Respekt für Wildbergers kompositorische Lebensleistung mit,
deren Gewicht für die Musik unserer Zeit nicht unterschätzt
werden sollte. Ein anderer Komponist, der seit 1963 in Paris lebende,
in Griechenland in Athen 1945 geborene Georges Aperghis, findet
langsam aber stetig auch in Deutschland die ihm gebührende
Aufmerksamkeit, die ihm in Frankreich schon seit langem gilt
beim alljährlichen Straßburger Musica-Festival gehört
Aperghis sozusagen zu den Hauskomponisten. In Straßburg wurde
auch Aperghis auf Heiner Müllers gleichnamiges Theaterstück
geschriebenes Oratorium Die Hamletmaschine uraufgeführt,
die nunmehr in Stuttgart ihre deutsche Erstaufführung erfuhr.
Heiner Müllers Materialsammlung spiegelt in fünf
Bildern die Regression unserer gegenwärtigen Welt, die schon
in Hamlets Staate Dänemark von Fäulnis befallen
war. Vergeblich rebelliert Ophelia gegen die allgemeine Verkommenheit,
während die gefesselte Elektra im Rollstuhl im tiefen Meer
gleichsam als ewiges Menetekel ihr Menschenschicksal erleidet. Nach
Wolfgang Rihms Hamletmaschine schwingt sich auch Aperghis
Vertonung auf die Anspruch-Höhe des Müller-Textes. Plastische
vokale Deklamation verbindet sich mit dramatischer instrumentaler
Aktion. Ein gewisser eklektizistischer Tonfall wird mit kräftiger,
oft exzessiver komponierter Gestik überspielt. Kunstvoll verbinden
sich Vokalebene (drei Gesangssolisten, Solo-Viola und Solo-Schlagzeuger,
die auch singen), Instrumentalsektion aus einfach besetzten Streichern,
Holz-und Blechbläsern sowie Klavier, Schlagzeug und Chor zu
einer farbreichen Klangpartitur von großer Sinnlichkeit und
theatralischer Lebendigkeit, die sich sicher ebenso wie Rihms Adaption
in wirkungsvolle szenisch-räumliche Aktionen umsetzen ließe.
Aperghis konnte sich gleichwohl in Stuttgart als genuiner Musiktheatraliker
mit einer Uraufführung präsentieren: Re-Citations
nennt er sein Musiktheater in acht Stationen, von denen er sechs,
Wilhelm Killmayer und Nicola Sani je eine komponierten. Leonardo
da Vincis plastische Beschreibungen der Wirkungen und Bewegungen
von Wasser (De la nature de leau heißt der
erste Titel bei Aperghis) werden vom Komponisten als Beziehungsverläufe
zwischen Menschen übersetzt und dargestellt.
Individuelle und Gruppenaktionen hinter und zwischen transparenten
Stellwänden, vor den Wänden sowie im benachbarten Orchestersegment
unter Beteiligung der Instrumentalisten deklinieren mal ernst, mal
heiter menschliche Verhaltensweisen durch. Bei Killmayer nimmt das
auf einen selbst geschriebenen, von Kurt Schwitters inspirierten
Text, gesungen und gespielt von sechs Vokalsolis-ten, fast surreale,
ziemlich komische Züge an: Die Diskussion über Phänomene
des Lebens endet mit dem Absturz eines wie vom Blitz getroffenen
Sturzbetrunkenen. Zitat: Der Blitz ist ein Signal der Schöpfung.
Womit man auch hier beim Titel Eclat wäre. Re-Citations
endet nach der Komik schließlich in dunkler Unheimlichkeit.
In Nicola Sanis Voci controvento versuchen fünf
Sänger mit den Geräuschen, Klängen, Schreien ihrer
Stimmen im Raum vergeblich, konkrete Sprache zu gewinnen.
In Aperghis De la nature de la gravité
(für sieben Stimmen, Trompete und zwei Schlagzeuger) führen
Reflexionen über die Schwerkraft direkt in ein Todesritual,
das der auf dem Rücken auf einem Flügel liegende Kapellmeister
heftig fuchtelnd dirigiert: Die Schwerkraft zieht alle und alles
hinab.
Silvia Kurz hat die Szenen insgesamt sinnfällig und lebendig
theatralisiert. Roland Kluttig führte Musiker und Sänger
sicher durch die Schwierigkeiten der Partitur. Das Musiktheater
des Georges Aperghis knüpft an die Ästhetik der Sechziger-
und Siebzigerjahre an, doch gewinnt das Zusammenspiel von Text und
Musik, von darstellerischen und instrumentalen Aktionen, von bewegten
Bildern (Film, Video), von Inszenierungen des freien Raumes, seiner
Definition durch Klang und Licht, im gegenwärtigen Musiktheater
wieder eine wichtige ästhetisch-dramaturgische Rolle. Wer die
vielen anderen uraufgeführten Werke klassifizieren möchte,
kommt allerdings nicht mit dem Bedeutungskanon von éclat
aus. Witzig, intelligent, humorvoll und zugleich anspruchsvoll präsentierte
sich das Kinderzaubertheater Mein Opa Schapopa. Dem
Komponisten John Cedric Brown gelang das Zauberkunststück,
den virtuosen Zaubereien eines gewissen ChaPeau alias Roland Schopp
ebenso virtuose Klänge von Posaune, Akkordeon, Harfe und der
Stimme eines Countertenors beizumischen, delikate Kammermusik, aus
der sich einmal sogar ein Blues löst. Dabei verbindet sich
die Musik nahtlos mit den Zauber-Aktionen, bildet mit den artistischen
Hexereien eine überzeugende Einheit. Riesenerfolg bei Kindern
und Erwachsenen inklusive Avantgardisten. Von stillerer Art erwies
sich die Kunst des Gitarrenduos Wilhelm Bruck/Theodor Ross bei neuen
Werken von Thomas Witzmann (Wanderlust) und Uwe Kremps
Kurze Schnitte 41 Stücke für zwei Gitarristen
und eine Schauspielerin (Susanne Schyns). In beiden Stücken
werden leise, nach innen gehörte Klänge äußerst
subtil in spielerische Gesten und Aktionen umgesetzt, das Wandern
erweist sich dabei oft keineswegs nur als Lust, oft auch als Zwang,
wie bei auswandern. Hinter der Poesie der Szenen scheint
immer wieder auch der Ernst einer Beckett-nahen Gegenwärtigkeit
auf. Wunderbar. Was erregte noch Aufsehen (éclat)? Sicher
Ricardas Kabelis Mudra für großes Orchester,
immergleiche akkordische Schläge des Orchesters, gleichsam
strukturierte Zeit, radikal in der Anlage, schwierig zu spielen
in der erforderlichen Gleich-Zeitigkeit. Dem SWR Radio-Sinfonieorchester
Stuttgart unter Robert HP Platz gelangen immerhin Annäherungswerte
an die Ansprüche der Komposition.
Werner Grimmel entdeckte für sei-ne Mörike-Adaption (September-Morgen),
der er den Titel In warmem Golde fließen gab (einer
Zeile aus dem Gedicht), den dunklen, warm getönten Klang der
Tenorgeige, angesiedelt zwischen Bratsche und Cello. Diese Tenorgeige
korrespondiert mit einer richtigen Violine sowie einem
sinfonischen Orchester. Es entwickelt sich ein fein komponiertes
und oft fugiertes Wechselspiel zwischen den beiden Instrumenten,
ein Dialog wie zwischen einem Menschen und seinem Schatten. Persönliche
Leidenserfahrung steht wohl hinter dem Werk, doch gelingt es Grimmel,
den Trauergestus zu sublimieren und zu überhöhen. Blues-Anklänge
und jazzoide Assoziationen wirken wie ferne Erinnerungen an ein
erloschenes Leben. Joachim Schall agierte virtuos auf beiden Instrumenten,
ohne dabei die starke Expression der Musik zu überspielen.
Michael Beils Aus eins mach zehn für Orchester
und Tonband sowie die similar sounds von Nikolaus Brass
komplettierten das Programm des von Robert Platz geleiteten Orchesterkonzertes:
Beides dicht komponierte, komplex strukturierte und ein wenig überkonstruiert
wirkende Kompositionen.
Ernst Helmuth Flammers Streichtrio Durée vécue
vers lEternel verbindet kompositorische Dichte mit klanglicher
Transparenz, Gestaltreichtum und Zeitstrukturierung der Abläufe
in den vier Abschnitten des einsätzigen Werkes. Georg Friedrich
Haas neues Blumenstück nach Texten aus Jean
Pauls Siebenkäs für 32-stimmigen Chor, Basstuba
und Streichquintett wirkte in der Kontrastierung zwischen obertönigen
Klangaktionen des Chores und instrumentaler harmonischer Basis insgesamt
etwas schematisch-trocken.
Dror Feilers La chiave a stella für zwei Klaviere
und zwei Schlagzeuger kann man, je nach Geschmack, für vital-explosive
Musik oder für aufgesetzte Kraftmeierei nehmen. Im letzten
Konzert erklang dann, neben neuen Stücken von Christian Utz,
Markus Stollenwerk und Ivan Fedele, endlich auch das Werk, das Hans-Peter
Jahn zu seiner Neu-Titulierung der Tage für Neue Musik Stuttgart
inspiriert haben mag: Éclat von Pierre Boulez.
Die Wiederkehr von bereits Erklungenem so hieß ein
Motto dieser Stuttgarter Neuheiten-Demonstration. Das muss kein
Fehler sein. Auch gehörte Stücke hört man, wenn sie
etwas taugen, oft und gern immer wieder neu. Eclat 2001
jedenfalls präsentierte sich innovativ, vielgestaltig, kommunikativ
und vor allem: vital. Im nächsten Jahr wird man sich nicht
mehr im alten Theaterhaus in Wangen zu Eclat 2002 treffen,
sondern im neuen, entstehenden Kulturzentrum am Pragsattel.