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nmz-archiv
nmz 2001/03 | Seite 22
50. Jahrgang | März
Bücher
Bedingungen musikalischer Öffentlichkeit
Wiener Institut für Musiksoziologie: Sammelband über
interdisziplinäre Musikforschung
Irmgard
Bontinck: Musik/Soziologie/... Thematische Umkreisungen
einer Disziplin, Wien 1999 Irmgard
Bontinck: Wege zu einer Wiener Schule der Musiksoziologie, Wien/Mühlheim
1996 Desmond
Mark: Wem gehört der Konzertsaal?, Wien 1998
Das Studienfach Musikwissenschaft produziert nicht zuletzt deshalb
so viele Studienabbrecher, weil eine vielfach dominierende musikarchäologische
Auffassung jede lebendige Auseinandersetzung mit der Musik in Gesellschaft
und Gegenwart blockiert. Aber es gibt Alternativen zum Beispiel
am Institut für Musiksoziologie der Wiener Musik- und Kunsthochschule,
dessen jüngster, von der Institutsleiterin Irmgard Bontinck
herausgegebene Sammelband zeigt, dass kein Standardweg zur Annährung
an das komplexe Phänomen Musik, dafür umso mehr ein interdisziplinärer
Blick gefragt ist. Umkreisungen einer Disziplin
unter diesem Titel stellen verschiedene Einzelstudien vor allem
die Verflechtungen um die Musik herum in den Vordergrund.
Fazit: Was Kurt Blaukopf, ein Schüler von Josef Tal, als Soziologie
der Tonsysteme begründete, ist zu einem vielschichtigen
Forschungsinstrument ausgebaut worden, das Theorie und Praxis miteinander
verknüpft. Virtuos scheint der Umgang mit der vom deutschen
Idealismus viel geschmähten Empirie.
Wem gehört der Konzertsaal? fragte Desmond Mark,
um die Feldforschungen der amerikanischen Tradition eines John H.
Muellers aufzugreifen. Unter Berücksichtigung des Umfeldes
zeichnet Desmond die Lebensbedingungen einzelner Musikwerke
im Konzertbetrieb nach und macht dadurch bestehende Hegemonien im
Repertoire transparent. Diskutierbar wird, welches Netzwerk an lebensweltlichen,
also sozialen, ökonomischen, psychologischen oder biografischen
Faktoren hinter scheinbar verbindlichen Ästhetiken steht, die
es dem Anderen, dem Neuen, also dem musikalischen Wagnis oft so
schwer machen.
Der offensichtliche Hang des Wiener Forschungsansatzes zur mathematisch-statistischen
Darstellung berechtigt zum Einwand, dass sich Musik als das
letzte Geheimnis des Menschen (Levi-Strauss) wohl kaum in
Worte und geschweige denn in Zahlen fassen lässt. Aber Statistik
existiert nicht für sich, sondern will theoretisch vernetzt
sein, und so ist der offene Blick über den Tellerrand auch
innerhalb der Disziplin Programm. In Wien sitzen Empiriker mit Semiotikern
Tür an Tür. In welchem Verhältnis Kategorien
des Verstehens und des Erlebens von Musik stehen, untersuchen Alfred
Smudits Systematisierungen musikalischer Codes und entsprechender
(Kultur-) Techniken, um diese zu rezipieren und zu entschlüsseln.
Von dieser neutralen Warte aus lässt sich nicht zuletzt jenes
pseudodemokratische Credo der Kulturindustrie demaskieren, dass
ein real vermittelter, weil medial existierender rückschrittiger
musikalischer Mainstream den Wünschen des Publikums entspricht.
Realität ist vielmehr, dass in Wahrheit niemand gefragt wurde,
da hinter den einkalkulierten Erwartungen ein kollektiv erlerntes
kognitives System und damit eine dankbare Kalkulationsmasse steht.
Da schimmert die alte dialektische Schelte von der Kulturindustrie
durch?! Richtig die Offenheit des Wiener Ansatzes integriert
auch klassische Denk-Errungenschaften, monumentalisiert sie jedoch
nicht. Der von Alfred Smudits kritisch reflektierte Fortschrittsbegriff
Max Webers ist kein Katastrophenszenario. Symbolisch griffen im
Klavier technische Innovation und ästhetischer Fortschritt
ineinander ähnlich wird hier der erfrischende Effekt
zeitgenössischer durchaus technologiebedingter
Paradigmenwechsel bejaht. Die faktische Verdinglichung von Musik
durch vollzogene Mediamorphose fordert Kompetenz im Umgang, und
die ist, laut einer von Desmond Mark herangezogenen UNESCO-Studie,
vor allem bei der jungen Generation vorhanden. Jugend und Musik
sind wie auch immer! eng miteinander verbunden. Bevor
das Räderwerk konformistischer Anpassungszwänge greift,
lässt sich daher innerhalb fein verästelter Codes eine
bewusst betriebene ästhetische Sozialisation nachweisen, die
ganz maßgeblich über die Musik läuft. Belegt wird
ferner, dass die Nachfrage nach kultureller Betätigung gerade
in materiell knappen Zeiten sprunghaft ansteigt, und auch jener
Befund, dass gerade in der österreichischen Provinz der Wunsch
der Jugend nach einer Musikschulausbildung am höchsten ist,
kündet vom existenziellen Rang des Musischen als Nährboden
für die innere Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft.
Die soziale Wirklichkeit der unzählig vorhandenen, unermüdlich
arbeitenden zeitgenössischen Komponisten wird in einer weiteren
empirischen Erhebung unter die Lupe genommen Resulat: Viele
Freischaffenden sollten ihre unternehmerische Kompetenz weiter ausbauen.
Und: Die Rundfunksender sind unersetzbar bei der Verbreitung zeitgenössischer
Musik. Diagnosen wie diese zeigen Chancen auf, wenn sie empirisch
gestützte Grundlagenforschung zum argumentativen Nährboden
für Kulturpolitik und -pädagogik machen. Entsprechend
zielt der Sprachstil des Sammelbandes und der zahlreichen Einzelstudien
auf große sprachliche Klarheit ab, sind die Forschungsschwerpunkte
auf die Brennpunkte musikalischer Gegenwart fokussiert. So wie Musik
nur im sozialen Kontext lebt, qualifiziert sich Wissenschaft
eben erst durch ihre praktische Verwertbarkeit.