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nmz-archiv
nmz 2001/03 | Seite 4
50. Jahrgang | März
Cluster
Und die Wissenschaft ...
... triumphiert wir verkünden dies gerne an
der Schwelle des neuen Jahrtausends über Mensch und Welt. Nicht
allein hat sie die genetische Pracht des Lebens, die Materie allen
Seins verwertungsgerecht bloßgelegt. Viel mehr: Die aufgeklärte
Vernunft leuchtet hell noch in den profansten Alltag hinein. Sie
erklärt Phänomene, denen wir bislang in dumpfer Unbewusstheit
erlagen. Sie führt den Beweis, dass bei homosexuellen Frauen
der Ringfinger meist länger als der Zeigefinger ist. Oder dass
die traditionelle jüdische Hühnersuppe tatsächlich
gegen Erkältung hilft. Angesichts solcher Offenbarungen verblassen
alle anderen Deutungsmuster dieser Welt.
Waren Religion und Philosophie schon im alten Jahrhundert weit
abgeschlagen, so wäre es gegenwärtig auch um jedwede Kunst
recht schlecht bestellt eilte nicht gerade die Wissenschaft
so manches Mal stützend und stärkend herbei. Mit Noblesse
versichert sie der an Legitimationsschwund dahinsiechenden Musik
deren eigenen Wert. Erst unlängst vermeldete der Tagesspiegel
Berlins grellste Posaune der Erkenntnis neue Einsichten.
Ein Vergleich des Verhaltens von 200 Häftlingen mit 200 Nicht-Häftlingen
habe ergeben, was unser weitsichtiger Innenminister schon lange
erahnte: Musizieren, so verlaute es von Experten, erzeuge einen
strukturierten, Bindungen erschaffenden Rahmen. Derart
gerahmt, erweisen sich Kinder als weniger anfällig für
kriminogene Einflüsse. Andersherum darf nun des Volkes Weisheit,
nach der böse Menschen keine Lieder besitzen, als wissenschaftlich
erhärtet gelten. Und wir bewundern solch sezierenden Verstand,
der von allen sozio-ökonomischen Bedingungen zu abstrahieren
versteht.
Allein: nicht nur von unmusikalischen Kindern droht die Krisis
der inneren Sicherheit. So hat jüngst ein gleich zweifacher
Dottore in der Zeitschrift Kriminalistik
darauf verwiesen, welche fatale Folgen Wechseljahre zeitigen können.
Östrogene und Gestagene, zur Milderung des Klimakteriums herangezogen,
könnten bei Frauen horror vacui einen sexuellen
Dauererregungszustand hervorrufen. Dies habe zur Folge, dass
der Gatte (in einem Alter über 60 Jahren)
den medikamentös induzierten sexuellen Ansprüchen
seiner Ehefrau nicht mehr genügen kann. Als Folge sieht
der Experte nicht nur Eifersucht und Leidenschaft, sondern gar Körperverletzung
und Tötungsdelikte blühen. Doch wo Gefahr ist, wächst
das Rettende auch. Hier schlägt die Stunde des Musikanten.
Und wir empfehlen wissenschaftlich geadelt schlagenden
Eltern das Tamburin, missratenen Zöglingen einen Singkreis
statt Gewalt und allen Frauen um die Fünfzig, dass sie nicht
zu Östrogenen, sondern vielmehr zur Gitarre greifen mögen.