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nmz-archiv
nmz 2001/03 | Seite 5
50. Jahrgang | März
Feature
Kräfte der Materie und Geheimnisse der Welt
Zum Tod des griechischen Komponisten Iannis Xenakis ·
Von Reinhard Schulz
Es gibt Komponisten, die die Musikgeschichte einfach braucht. In
solchen Fällen scheint sie es zu sein, die einem historischen
Weltgeist gehorchend Bedingungen installiert, in die das notwendige
Neue integriert wird. Arnold Schön-berg soll einmal auf die
Frage, ob er der bekannte Neutöner sei, gantwortetet haben:
Keiner hat es werden wollen und so habe ich es gemacht.
Bei dem griechischen Komponisten Iannis Xenakis, der am 29. Mai
1922 im rumänischen Braïla geboren wurde und der am 4.
Februar 2001 in Paris starb, ist es auch so.
Körperlichkeit im Raum:
Iannis Xenakis im Gespräch. Foto: Charlotte Oswald
Xenakis nämlich hatte entscheiden müssen. Er arbeitete
in den 50er-Jahren erfolgreich als Architekt, zu dem er am Polytechnischen
Institut in Athen ausgebildet worden war. Er, der im zweiten Weltkrieg
im Widerstand gegen den Faschismus gekämpft hatte, wo er sich
eine schwere Kopfverletzung zuzog, hatte, in seiner Heimat zum Tode
verurteilt, 1947 in Frankreich politisches Asyl erhalten. Bis 1960
war er Mitarbeiter bei Le Corbusier. Musik wurde nebenher betrieben,
bei Hermann Scherchen in Gravesano oder auch bei Olivier Messiaen
am Pariser Konservatorium. Ich habe die Musik ausgewählt,
erzählte Xenakis später, weil ich wählen musste:
entweder die Forschung oder Geschäftsmann werden. Es gibt zu
wenig Forschung in der Architektur. Und ich habe mich in die Musik
zurückgezogen: dort konnte ich, trotz aller Schwierigkeiten,
künstlerische Forschung realisieren.
Objekivismus
Eigenartig: Xenakis wählte die Musik, nicht weil er dort
sein Ich in subjektiven Ausdrucksformen verwirklichen konnte, sondern
weil sich dort künstlerische Forschung durchsetzen ließ.
Und wirklich spielt das künstlerische Subjekt in Xenakis
Arbeiten eine allenfalls verdeckte oder zurückgedrängte
Rolle. Schon als am 16. Oktober 1955 in Donaueschingen sein Orchesterwerk
Metastasis zum ersten Mal erklang und Xenakis
kometenhaft aufzusteigen begann, mochte man das deutlich gespürt
haben. Die musikalischen Denkansätze drehten sich damals in
erster Linie um reihentechnische, serialistische Probleme, die die
unverkennbar subjektiven Äußerungen hinter einem Gesetz
versteckten und verklausulierten. Im Bruch steckten Formen der Entfremdung
von Musik und Gesellschaft.
Xenakis machte da nicht mit. Dem Serialismus stand er immer skeptisch
gegenüber, wohl weil er Beschränktheiten dieses Ansatzes
von Anfang an erkannte. Die Zahlenspielereien mit den Reihen, mit
den musikalischen Parametern mögen auf ihn kindlich blauäugig
gegenüber den neuen mathematischen Erkenntnissen gewirkt haben.
Denn mathematisch wissenschaftlich war auch sein Zugang zur Musik,
doch auf entschieden fundamentalere Art. Er setzte stochastische
Verfahren in Aktion, Erfahrungen mit Mengenlehre. Doch wurden sie
ihm nie zum Selbstzweck, sie dienten der Berechnung von Klang, Dichte,
Schalldruck, Körperlichkeit im Raum ganz wie er es als
Architekt und Statiker gelernt und ausgeübt hatte. Die Idee
von Form oder die eines Prozesses steht als elementare im Zentrum,
die Berechnungen prüfen dann Statik und Belastbarkeiten, Grenzsituationen,
Stellen des Umschlags.
Elementares Staunen
Niemals freilich ist dies bei Xenakis blutleer oder abstrakt formalistisch.
Denn das Elementare seiner Musik tritt in enigmatische Verbindung
mit den Formeln, den Kräften, ja den Göttern, die unser
Sein lenken. Mit der Neugier, mit der wir heute Bilder von Landschaften
auf den Planeten, von Sonnenprotuberanzen, von entfernten Galaxien
mit den Spuren explosiver Kraftentfaltung, mikroskopische Aufnahmen
von Genanordnungen auf Chromosomen oder Satellitenfilme über
die Entwicklung von Wetter mit ihren Wirbeln, ungestümen Aufbauen
und unvermutetem Zusammenbrechen von Wolkenfeldern beobachten, ging
er seinen klanglichen Prozessen nach. Hierin ist Xenakis modern
in einer Art, von der andere Komponisten in den 50er-Jahren noch
kaum eine Ahnung hatten. Alles liegt bei ihm offen zu Tage und das
Zuhören wird zum Staunen über die innewohnenden Kräfte
der Materie. Und so wie wir beim Ansehen oder Erleben elementarer
Ereignisse hinter der Oberfläche die Rätsel und Geheimnisse
der Welt und der Gesetze, die sie zusammen halten, unvermittelt
spüren, so wirkt auch seine Musik auf uns.
Was immer bei Xenakis auffällt, ist eine unendlich sich hinwendende
Nähe zum Gegenstand. Die Musik ist für mich Philosophie,
sagte er einmal, das ist die klangliche Projektion der Gesetze
der Sterne, der Maschinen und der menschlichen Sensibilität.
Für mich ist die Musik die klangliche Projektion des turbulenten
und schwindelnden modernen Denkens. Das, was ich zu machen versuche,
ist, die Harmonien und die Dissonanzen des modernen Lebens in einer
wahrnehmbaren Form zu organisieren. Einmal haben die Hirten den
Gesang der Vögel und der Insekten gehört, und es hat sie
inspiriert.
Heute geht es um den gleichen Prozess, nur unter einer radikal
verschiedenen Form. Hinhören auf die Turbulenzen des
Seins wie auf kleinste, schüchterne Regungen des Individuums,
Konzentration auf einen Aspekt, das ist es, was alle Werke von Xenakis
so nachdrücklich faszinierend macht. Die Musik macht keine
Biegungen, sie verstrickt sich nicht, alle Parameter dienen nur
einer Sache: den Eindruck, die klangliche Erfahrung zu vertiefen,
zu verstärken.
Vielfalt der Physiognomien
Der Reichtum der Musik ist dabei so groß wie der Reichtum
der Welt selbst. Ein paar Schlaglichter: Im für Jerusalem geschriebenen
Stück NShima für zwei Mezzosoprane,
2 Hörner, 2 Posaunen und Violoncello (1975) etwa geht es um
die Klangkonstellation von hebräischer Sprache und einem alten
israelitischen, aus einem Bockshorn gefertigten Instrument. Es sind
klangliche Desiderate, die die Aura einer Landschaft, einer kulturellen
Einheit auf den Punkt bringen. Im für Persepolis geschriebenen
Schlagzeugerstück Persephassa (1969) entwerfen
im Raum rotierende, sich in tumultulöse Geschwindigkeit steigernde,
wie Wellen sich über den Hörer ergießende Schlagwirbel
das Bild naturhaften, ungestümen Sprießens. Das Streichquartett
Tetras (1983) stellt wilde kommunikative Verschlingungen,
das Ineinander herber Gesten der vier Protagonisten vor. Im Quartett
Tedora (1990) ist dieser Aspekt hin auf ein Ineinander
fremder Skalen abgeändert. Die für die exorbitant virtuose
Cembalistin Elisabeth Chojnacka geschriebenen Stücke Khoaï
(1976) und Naama (1984) nehmen sich die harte
Trennschärfe des Cembaloklangs mit seinen charakteristischen
Akzentstrukturen sowie einen haptischen Spielgestus zur Ausgangsbasis.
Eonta für Klavier und Bläser (1963/64)
lebt aus weiss-grellen Entladungen des Klangs, die wie Lichtblitze
wirken, in Nuits für 12 Gesangsstimmen (1967)
hören wir das unterdrückte Zirpen und die Klagelaute nächtlicher
Landschaften, das Orchesterwerk Ata (1987) hingegen
wirkt wie eine Wand, die mit dem Hammer aus Stein geschlagen ist.
Die szenische Komposition Oresteïa nach
Eschylos führt in weiter Wanderung rätselhaft durch Ebenen
aus Zeit und Bewusstsein. Jedes Werk von Xenakis besitzt auf diese
Weise eine ganz eigene Physiognomie, die so klar und dadurch so
stark in ihrer Wirkung ist, dass eine unmittelbare Deckungsgleichheit
zwischen dem Klang und dem Dargestellten entsteht. Hierin ist sein
Werk unverwechselbar, radikal und einzig in der Landschaft der musikalischen
Avantgarde.
Traditionslos radikal
Die Radikalität des elementaren Erlebens in der Musik von
Xenakis erweist sich noch an einem anderen Punkt, der beim Werk
von Xenakis stets ein Spannungsfeld von Nah und Fern erzeugt. Denn
seine Musik verzichtet weitgehend auf die abendländische musikalische
Tradition. Von Anbeginn an, vom Urerlebnis im Orchesterwerk Metastasis
stellen sich die Stücke außerhalb des geschichtlichen
Stranges. Und dadurch entkam die Musik einengenden Zwängen.
Der anvisierten Deckungsgleichheit mit dem Gegenstand stand kein
formales oder satztechnisches Verdikt gegenüber. Das Schaffen
wurde bei ihm zum unmittelbaren Akt. Das Werk von Xenakis ist direkter,
ungeschützt harter Kontakt zur Welt. Unüberhörbar.