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nmz-archiv
nmz 2001/03 | Seite 12
50. Jahrgang | März
Medien
Ethnografische Expedition in eine fremde Welt
soundstories/materialmeeting: Neue Konzepte für
das Hör-Stück
Das neue Hörspiel der 60er- und 70er- Jahre, das weg wollte
vom Radio-Theater ohne Bild und vom dialogisierten Prosa-Text, ist
mittlerweile auch schon Geschichte. Neuere Formen reflektieren noch
radikaler das Medium und seine Geschichte und suchen neben
dem Rundfunk andere Formen des Erscheinens, vom Live-Event
bis zur Compact Disc.
Produktiv ist vor allem die Kooperation zwischen den neuen Pop-Literaten
und den diversen Sub-Genres elektronischer Musik, die sich in den
90er- Jahren ausdifferenziert haben. In den Texten, die so entstehen,
verbinden sich die Extreme: das ungenierte Spiel der Fantasie und
die krude Dokumentation; Subjektivität als Ort der Erfahrung,
aber auch von Kodes und Konstrukten und reiner, unverfälschter
Original-Ton, Realitäts-Reportage. Und die elektronische Musik
erkundet ihre Ränder: vom Geräusch über
Sound-Ambientes bis zum Klang-Reiz gesprochener Sprache.
Bei den sechs Projekten, um die es hier geht und die unter dem
Titel soundstories/materialmeeting nach der Radio-Uraufführung
eben auf CD veröffentlicht wurden, kommt noch eines hinzu:
die Faszination durchs Archiv. Die zehntausende auf Tonträger
gespeicherten Programmstunden sind für die Schriftsteller und
Musiker nicht abgetane Radio-Geschichte, die höchstens für
Historiker und für Freaks von Interesse ist, sondern explosivster
Stoff, der nur auf den zündenden Funken wartet, um seine Potenzen
und seine verborgenen, verschobenen, verdrängten Wahrheiten
frei zu setzen.
Die Idee ist so anregend, dass das erste Sound-Sightseeing fast
ein wenig enttäuscht. Die sechs Soundstorys-Pärchen sind
zu aktualitätsfixiert, auch zu subjektiv vorgegangen, um die
unheimlichen Archive öffen zu können. Das Material, das
sich hier trifft, stammt weitgehend aus der Chronik der laufenden
Ereignisse des vergangenen Jahres. Auf Anhieb überzeugend ist
das beim Ex-SPEX-Chefredakteur und Whirlpool-nahen
Sound-Bastler Hans Nieswandt und bei Kathrin Röggla, die den
poetisch-surrealen Aberwitz des Börsen-Talks direkt den täglichen
Medien-Marktschreiereien rund um den stürzenden Neuen
Markt entnehmen.
Bei ihnen kann man erfahren, dass Dekonstruktion nicht nur der Lieblings-Slogan
post-strukturalistischen Theorie-Chics ist, sondern tatsächlich
eine Methode, die es erlaubt, die Macht von Begriffen und gerade
herrschenden Diskursen durch Wiederholung, Variation und Verschiebung
zu thematisieren, aber auch zu zerlegen und dadurch
zu brechen. Ein Riesen-Abgang, das ist eine ethnografische
Expedition in eine fremde Welt, die unsere ureigene ist. Aus der
Verpuppung der grassierenden Wünsche und Ängste entsteht
ein Theater der Bizarrerien: Die Börse ist immer schon Bühne,
man muss nur zuschauen und zuhören und ab und zu Akzente setzen.
Thomas Meinecke leistet Ähnliches für ein verwandtes
Feld der Schein-Produktion: nämlich für die Images, die
Pop und Politik, wenn auch konkurrenzhaft, streitend in Bewegung
setzen.
Welche Farbe hat Mariah Carey ist eine suggestive Meditation
über den Rassismus, der immer schon da ist, bevor überhaupt
sounds und visions entstehen. Console setzen
neben den hinterfotzig-monotonen Märchen-Sound des Erzählers
ein Soundscape-Nirvana, das mit Wohlfühlen genauso kompatibel
ist wie mit Verzweiflung. Ein wenig überengagiert und deshalb
dem erbarmungslosen Zeitlauf besonders ausgesetzt sind. Caroline
Hofers straßennahe Statements zum österreichischen Regierungswechsel,
begleitet von Hans Platzgumer, die zeigen, dass Radikalität
eine Falle sein kann, wenn man nur das sagt und tut, was allen recht
ist und was jeder immer schon erwartet hat.
Material-Meeting
Es ist das P.C.-Paradox, dass einen die aufrechteste Haltung ganz
schön krumm ausschauen lassen kann. Vielleicht sollte sich
Caroline Hofer an die alte Einsicht Ingeborg Bachmanns erinnern,
dass Tapferkeit vor dem Freund sehr viel schwieriger und notwendiger
ist als die vor dem Feind. Am ernstesten haben den materialmeeting-Gedanken
vielleicht Kalle Laar und Co. genommen, die als treue Adepten des
Konzepts mit einer Stoff-Sammlung beginnen und diese dann durch
den subjektiven Reißwolf drehen: Man kann bei ihnen hören,
dass pure Aufzählung und Aneinanderreihung oft schon die wüsteste
Kritik ist, weil es das Unhaltbare nicht erträgt, wenn man
es beim Namen ruft.
Trotzdem, Marx uralte Idee, den Verhältnissen ihre eigenen
Melodie vorzuspielen, um sie zum Tanzen (und zum Platzen) zu bringen,
wurde nur in Ansätzen verwirklicht. Manches klingt noch zu
beliebig. Aber dieses neueste Sub-Genre der uralten Hörspiel-
und Radio-Stück-Tradition hat ja auch die Tücken der Pubertät
noch lange nicht hinter sich.
Helmut Hein
Diskografie:
soundstories/materialmeeting
(Console/Thomas Meinecke; Hans Platzgumer/Caroline Hofer; toroco
rot/Stefan Schneider; Hans Nieswandt/Kathrin Röggla; Resut/Thomas
Palzer; Kalle Laar/Zeitblom/Ulrich Schlotmann), intermedium records
005; Indigo Vertrieb