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nmz-archiv
nmz 2001/03 | Seite 24
50. Jahrgang | März
Noten
Von der Alternativkadenz bis zum Basshorn
Gesamtausgabe der Werke Felix Mendelssohn Bartholdys (Teil I)
Neuausgaben der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy erregen
naturgemäß nicht so großes Aufsehen wie solche
von Bach, Mozart oder Beethoven. Dies hat den Vorteil, dass auch
eine Gesamtausgabe in aller Ruhe auf höchstem Niveau vorwärts
gebracht werden kann mit dem Anspruch auf Gültigkeit
man denke hingegen an die geglückte Intervention Bärenreiters
mit der Del Mar-Urtextausgabe der Beethoven-Symphonien, die die
von Henle betriebene Gesamtausgabe (allerdings auch primär!
ganz zweifelsfrei aus qualitativen, musikpraktisch-editorischen
Gründen!) wohl ein für alle Mal ins Abseits verwiesen
hat.
Bei Mendelssohn also ist das Schlachtfeld ruhiger, was natürlich
nicht zuletzt damit zu tun hat, dass seine Partituren, zumal diejenigen
der Reifezeit, kaum in wesentlichen Punkten Anlass zu hitzigen Auslegungs-Streitigkeiten
liefern. Darüber hinaus muss nun aber betont werden, dass die
Editoren der beim Wiesbadener Verlag Breitkopf & Härtel
erscheinenden Mendelssohn-Gesamtausgabe in den letzten Jahren wahrhaft
Außergewöhnliches hinsichtlich Rechercheaufwand und kritischer
Sorgfalt geleistet haben, wie dies selbst bei den hohen Erwartungen
an solche Projekte nicht Usus ist (so sind ja zum Beispiel bis heute
zu manchen Bänden der Mozart-Gesamtausgabe keine kritischen
Berichte erschienen!). Breitkopf & Härtel setzt nicht einfach
die bewährte Praxis der einstigen DDR-Mendelssohn-GA des Deutschen
Verlags für Musik fort. Auch dort war der Revisionsbericht
im Notenband mit enthalten, dazu gabs ein knappes Vorwort
zum vorliegenden Band und ein paar Autograph-Seiten
zur Ansicht. Dieses ganze Drumherum ist nun auf einen viel ausführlicheren
und übersichtlicheren Standard gebracht worden. Die Einleitung
(zweisprachig deutsch-englisch) gibt eine Fülle von Informationen
zu Entstehungsgeschichte, zeitgenössischen Aufführungen,
Drucklegung, personal- und zeitstilistischer Einordnung und Detailproblemen.
Besonders interessante Seiten sind auch hier wieder im Autograph-Faksimile
einzusehen. Und dann, dies wohl die entscheidenste Verbesserung:
der Kritische Bericht ist nunmehr in zwei Hauptteile aufgegliedert.
Im ersten Teil werden sämtliche bemerkenswerten Abweichungen
zwischen den verschiedenen Quellen aufgelistet und auch die erkennbaren
Schritte des kompositorischen Prozesses offen gelegt, zum Beispiel
später gestrichene Passagen, die vollständig wiedergegeben
sind, oder Veränderungen, bei denen der ursprüngliche
Zustand mitgeteilt wird. Wo das gesungene oder gesprochene Wort
vorkommt, sind auch alle textlichen Varianten dokumentiert (dieser
Textvergleich nimmt bei der Neuedition des Sommernachtstraums immerhin
22 großformatige Seiten in Anspruch!).
In letzter Zeit sind drei Frühwerke erschienen, unter welchen
das Doppelkonzert für Violine und Klavier herausragt, und die
komplette Schauspielmusik zu Shakespeares Ein Sommernachtstraum
op. 61. Letztere wurde von Editionsleiter Christian Martin Schmidt
herausgegeben und geriet zu einem wahrhaft prächtigen Vorzeigeexemplar.
Allein der Kritische Bericht, der sich mit 17 Quellen auseinander
setzt, umfasst 86 Seiten und listet am Ende akribisch Skizzen und
verworfene Fassungen auf, bis hin zu jenen Entwürfen,
die nicht zugeordnet werden können. Die mitedierte Ouvertüre
ist nicht in das vergleichende Verfahren einbezogen, da sie als
Konzertwerk viel früher entstand und ihre kritische Neuedition
getrennt in Planung ist.
Geht man den editorischen Entscheidungen Schmidts im Einzelnen
nach, so kommt man bald zu der Erkenntnis, dass hier nicht nur musikwissenschaftlich-theoretisch
höchste Seriosität waltete, sondern auch musikalisch-praktisch
mit sensiblem Ohr gearbeitet wurde. In der umfangreichen Einleitung
erfährt man alles Wissenswerte, was zusammengetragen werden
konnte, so auch über Numerierung und Titel der Sätze
(den Elfenmarsch bezeichnete Mendelssohn nicht als solchen)
und über die Instrumentation. Hier ist eine Information von
besonderem Interesse, zumal ihr aufführungspraktisch bislang
nicht nachgegangen wurde. Die auch in dieser Partitur mit Ophicleïde
bezeichnete tiefste Stimme der Blechbläser, die in unserem
Konzertleben von einer Basstuba ausgeführt wird, war von Mendelssohn
für ein Corno Inglese di Basso vorgesehen (dasselbe
gilt für seine Ouvertüre für Harmoniemusik op. 24)!
Es ist dies aber nicht, wie man denken sollte, eine Art Kontrabassoboe,
sondern ein Basshorn, welches erstmals in England hergestellt wurde.
Dieses Instrument scheint technisch nie genügend vervollkommnet
worden zu sein. Zu welcher Familie es gehört, wird leider nicht
mitgeteilt. Ob es sich um ein Bass-Saxhorn handelt, wie die Franzosen
es verwendeten? Jedenfalls ist von Mendelssohns Hand eine nicht
mit abgedruckte Zeichnung überliefert, bis zu deren GA-Dokumentation
(in Serie X sind Zeichnungen und Aquarelle, in Serie XI Briefe,
Schriften und Tagebücher vorgesehen) man leider wohl noch einige
Zeit warten muss.
Im Erstdruck vorgelegt wurde das von Christoph Hellmundt herausgegebene
frühe, vermutlich Anfang 1822 komponierte Konzert in a-Moll
für Klavier und Streicher. Bislang war es nur in einer Abschrift
des Deutschen Verlags für Musik leihweise erhältlich.
Hellmundt verweist, in Übereinstimmung mit zitierten Studien,
auf die offensichtliche Anlehnung an das a-Moll-Konzert Johann Nepomuk
Hummels, aber auch des c-Moll-Konzerts von Carl Philipp Emanuel
Bach und des B-Dur-Doppelkonzerts von Johann Ladislaus Dussek. Der
Kritische Bericht gibt Aufschluss über die Eintragungen des
Lehrers Carl Friedrich Zelter in der Partitur und erteilt Auskunft,
wo Mendelssohn dessen Änderungsvorschläge übernommen
hat (und sie somit in die vorliegende Ausgabe Eingang fanden) und
wo er sie ignorierte.