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nmz-archiv
nmz 2001/03 | Seite 17
50. Jahrgang | März
Rezensionen
Weltkarte der Musik
Aus dem Berliner Ethnologischen Museum
Hätten wir eine Weltkarte der Musikkulturen, wären die
Proportionen erheblich zugunsten Europas und der USA verzerrt. Im
Berliner Ethnologischen Museum werden seit über 100 Jahren
Tondokumente gesammelt, die Auskunft über die riesige Vielfalt
der Musikphänomene und deren Verteilung auf diesem Globus geben.
Sie bilden ein unschätzbares Reservoir zur Korrektur unserer
eurolastigen Perspektive. Ohne Scheu vor Selbstkritik sollten daran
Interessierte sich jetzt eine Edition zulegen, auf der 100 Aufnahmen
von 1897 bis 2000 eine repräsentative Auswahl des zum Ethnologischen
Museum gehörenden Phonogramm-Archivs vorstellen.
Doch es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich
ein solches der Barbarei zu sein, war sich der Philosoph Walter
Benjamin sicher. In der Tat gibt es auf den vier CDs Aufnahmen von
bereits ausgestorbenen Völkern wie den Feuerlandindianern oder
vernichteten Traditionen wie den Monumbo-Tänzen im Norden Neu-Guineas,
einer ehemaligen deutschen Kolonie. Insofern sind diese Aufnahmen
auch traurige Zeugnisse europäischen Forschergeistes: Als Nachzügler
trabten die Dokumentaristen, ausgerüstet mit Edison
Phonographen, den Eroberern hinterher, um, in gewisser Hinsicht
zynisch, noch nicht zerstörte Reste der Kulturen zu bewahren.
Hätten diese Enthusiasten sich aber nicht auf den Weg gemacht,
gäbe es heute keine Tonaufzeichnungen und auch kein Audio-Gedächtnis.
Im fast 300 Seiten umfassenden Booklet (Text: englisch!) sind zu
jeder Aufnahme entsprechende historische Fotos und Fakten parat
oft von den Forschern selbst erzählt, eine angenehme
Begleitung zum allgemein hohen Informationswert der Texte. Sie berichten
auch von Schwierigkeiten der Transkriptionen, die erst Vergleiche
ermöglichten, und den technischen Entwicklungen ethnologischer
Feldforschung. Wachswalzen waren in der ersten, der kolonialen Phase
gebräuchlich, deren erhebliche Nebengeräusche beim Transfer
auf CD nicht unterdrückt werden konnten (oder sollten).
Mono- und Stereotonbandgeräte kamen ab den 50er-Jahren zum
Einsatz, und heute bestimmen DAT-Rekorder den technischen Standard.
Konzertmitschnitte aus den letzten beiden Jahrzehnten sind an der
einwandfreien Tonqualität erkennbar, so dass man einen historischen
Längsschnitt der Tontechnik nachvollziehen kann. Andererseits
berücksichtigt jede CD die fünf Kontinente, also ist vier
Mal ein globaler Querschnitt da. Auch wenn die Darstellung der puren
Fakten manche kritische Frage verdeckt, öffnet Music!
The Berlin Phonogramm-Archiv vorzüglich und in geeigneter
Weise den Einstieg in die vergleichende Musikbetrachtung und die
Ohren für die Welt der Musikkulturen.
Hans-Dieter Grünefeld
Music!
100 Jahre Berliner Phonogramm-Archiv 19002000
Wergo SM 1701 2 / 1703 2 (4 CDs), Schott Music & Media