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nmz-archiv
nmz 2001/03 | Seite 42
50. Jahrgang | März
Jazz,
Rock, Pop
Bärentanz zu neuen Rhythmen
Die Entwicklung der russischen Pop- und Rock-Szene seit der Perestroika
Die Zeit von Sturm und Drang im russischen Pop ist Geschichte:
vorbei die ersten offiziellen Popkonzerte im Kreml, vorbei die ersten
Auftritte russischer Bands in überfüllten, mit Hammer
und Sichel geschmückten westlichen Klubs. Der eigenartige russische
Markt beherrscht heute die Szene.
Zu Zeiten der kommunistischen Gerontokraten waren aggressive Rockklänge
ebenso verboten wie bunte Klamotten und lange Haare. Wer Musik machte,
durfte staatlich abgesegnete Stücke spielen und musste die
russische Vaterlandsliebe oder die paradiesische Zukunft des Kommunismus
besingen. Wer sich dafür nicht hergeben wollte, hatte keine
Chance, eine Schallplatte zu produzieren oder öffentlich aufzutreten;
auch der Zugang zu den Massenmedien blieb ihm verwehrt.
Und dann kam 1985 Gorbatschow und öffnete alle Türen:
Plötzlich waren Rockkonzerte erlaubt, die staatliche Schallplattenfirma
Melodija press-te laufend Alben von Bands, die noch kurz zuvor verboten
waren. Und am Fernsehen bevölkerte die Rockprominenz
Bands wie Aquarium, DDT, Alissa, Kino und Awia liberale, aufklärerische
Sendungen wie etwa Wzgljad (Blick), welche Gorbatschows Idee von
Glasnost verbreiteten. Auch der Westen stand den Musikern plötzlich
offen: Kruiz veröffentlichten bei Warner ein Album mit russischem
Heavy Metal, Boris Grebentschikow, der Sänger der über
Jahren hinweg wichtigsten russischen Rockband Aquarium (die Band
spielte zunächst eine Mischung aus Pink Floyd und russischer
Lied-Poesie), bescherte dem westlichen Publikum mit Hilfe des Eurhythmics-Produzenten
Dave Stewart das Album Radio Silence, auf dem ihn Annie
Lennox als Background-Voka-listin unterstützte.
Damals hatte die Szene auch stilistisch viel zu bieten. Hardrock
und Heavy Metal dominierten, doch das Publikum öffnete die
Ohren auch für Folk-Rock (DDT), New Wave (Awija), nostalgischen
RocknRoll (Bravo), Art-Rock (Awtograf) sowie für
elektronische Klänge (Michail Tschekalin) und freie Improvisation
(Kurjochin). Trotz anfänglicher Euphorie im Westen gelang aber
keiner russischen Band der internationale Durchbruch.
Graue Eminenzen
Durch die Auflösung der Sowjetunion wurde die russische Szene
plötzlich kleiner; bürokratische Hindernisse sowie steigende
Verkehrskosten führten dazu, dass Bands aus früheren Sowjet-Republiken
heute nur noch selten in Russland auftreten. Mit der Einführung
der Marktwirtschaft veränderten sich außerdem die Produktionsbedingungen
wesentlich; als Erben der staatlichen Firma Melodija, die nun nur
noch Archivaufnahmen aus dem Bereich Klassik exportierte, wurden
bereits 1992 erste private Plattenfirmen gegründet. Viele Geschäftsleute
witterten die Chance, mit Tonträgern rasch reich zu werden,
eine Unzahl von Schwarzpressungen kam auf den Markt es handelte
sich zumeist um Aufnahmen westlicher Stars, von Abba bis Zappa.
Die Aufnahmequalität war dabei mindestens so tief wie die Preise.
Lücken in der Gesetzgebung ermöglichten solche Geschäftspraktiken;
bis 1995 waren die Rechte westlicher Musiker in Russland nicht geschützt.
Gleichzeitig wurde es ruhig um die russischen Musikerpersönlichkeiten.
Die Musikszene wurde dafür mit Retortenstars überschwemmt,
welche die tonangebenden Manager sie spielen sich bis heute
gerne als Musikproduzenten auf in die Medien
pushten: lächelnde und tanzende Jungs und Mädchen ohne
Stimme drangen ins Fernsehen, in den Rundfunk und auf die Titelseiten
der
Illustrierten, spielten und sangen (meist im Playback) banale Melodien
und idiotische Texte in der Art verbilligter Modern-Talking-Versionen:
Natalja Gulkina, Natalja Lagoda, Katja Lel und wie sie alle heißen...
Das korrupte Popsystem schaffte nicht nur Musikermarionetten,
es diente der russischen Unterwelt auch zur Geldwäsche. Das
ist vielleicht auch die Erklärung dafür, dass viele Mafiabräute
eine Gesangskarriere gewählt haben. Die kommerzielle russische
Popmusik ist künstlerisch kaum relevant, ihr einziger Nutzen
liegt in der Ankurbelung der Videoproduktion: Heute werden in Russland
jährlich 70 bis 80 Clips produziert, viele können einem
Vergleich mit westlichen Standards standhalten. Dies liegt einerseits
an der langen Tradition des russischen Films und andererseits an
der prekären Lage der russischen Filmindustrie: Für viele
Regisseure, Kameraleute und Designer bieten die Clips oft die einzige
Möglichkeit, sich über Wasser zu halten.
Die alte Garde
Auf die herrschende Situation der russischen Popszene reagieren
einige ehemalige Rockgrößen mit irritierendem Radikalismus
und Fanatismus: Seit einigen Jahren zählen Rockbands wie Metal
Korrosion, Graschdanskaja Oborona, Kalinow Most alle waren
sie in den 80er-Jahren Vertreter der subversiven Rockgarde
zu den treuen Genossen von Nationalisten und Kommunisten. Ihre Lieder
über die nationale Ehre des russischen Geistes
oder gegen die Diener des internationalen Zionismus
sind zwar glücklicherweise nicht sehr populär in
Russland gibt es (noch) keine Klein-Plattenlabels, die solche Botschaften
zu vermarkten versuchen. Auch die zynischen Manager der Pop-Generation
versuchen aus dem primitiven Chauvinismus keine Profite zu schlagen.
Mit ihrer Musik gelangen die Vertreter dieser radikalen Subkultur
also nicht in die Medien, bisweilen aber dank politischer Eskapaden:
Sergei Troizki beispielsweise, der Leader von Metal Korrosion, hat
mehrmals erfolglos für das Amt des Moskauer Bürgermeisters
kandidiert.
Hoffnung
In den letzten Jahren haben russische Musiker auch versucht, neuere
Tendenzen westlicher Popmusik zu übernehmen. Doch heute muss
man leider feststellen, dass diese Versuche nicht von Erfolg gekrönt
waren. Russische Rapper und HipHop-Bands wie Delfin oder Otpetije
Moschenniki haben es im Unterschied zu ihren Kollegen in Frankreich
und Deutschland nicht geschafft, eine eigenständige Musik zu
entwickeln, die Benutzung der russischen Sprache in Raps hat zu
wenig Originalität geführt.
Und trotzdem gibt es Grund zu Hoffnung. In den letzten zwei, drei
Jahren nämlich ist eine neue Generation von Musikern auf den
Plan getreten, die qualitativ hoch stehenden Pop bieten und mit
witzigen Texten amüsieren. Künstler und Künstlerinnen
wie Valeri Meladze, Andrei Gubin, Marina Chlebnikowa, Anastasia,
Wika Ziganowa und Leonid Agutin verstehen es nicht nur, gute Popsongs
mit cleveren Texten zu schreiben und diese einfallsreich zu arrangieren,
sie können sie auch live interpretieren.
Neue Namen gibt es schließlich auch in der russischen Rockszene:
Zum Beispiel die Gruppe Mumi Troll des charismatischen Sängers
Ilja Lagutenko, der einige Jahre in London verbracht hat und sich
dort vom Brit-Pop inspirieren ließ. Lagutenko ist nicht unbedingt
ein großer Rebell, aber vielleicht eine Art russischer Mick
Jagger, der mit seiner Band unterdessen Kultstatus erreicht hat.
Die Szene entwickelt sich also weiter, viele neue Namen treten auf,
darunter auch viel versprechende. Man darf noch hoffen von einer
eigenständigen russischen Popmusik.