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nmz-archiv
nmz 2001/04 | Seite 36
50. Jahrgang | April
Oper & Konzert
An der Schwelle zum Reich der Toten
Madrider Uraufführung der Oper La Señorita
Cristina zum 70. Geburtstag von Luis de Pablo
Es gibt wohl fast überall in der Welt Komponisten, die in
der Literaturoper nach wie vor ein Patentrezept sehen:
Man nehme eine wertvolle Dichtung, würze sie durch kräftige
oder subtile musikalische Zutaten und fertig ist ein Stück
Musiktheater mit Wiedererkennungswert. Im günstigsten Fall
wirft die literarische Vorlage etwas von ihrem Glanz oder ihrem
Perspektivenreichtum auf das Musikwerk ab. Doch leider gibt es oft
mindestens einen Haken an der Sache: den Vergleich mit der Dichtung
selbst der für die Literaturopern nicht immer günstig
ausfällt. Vor allem dann, wenn sie in enger, manchmal erstickender
Umarmung des literarischen Werkes umstandslos geradeaus
erzählen.
Victoria Livengood als Cristina
und Francesc Garrigosa Massana als Egor. Foto: Javier del
Real
Am Teatro Real in Madrid hatte der auch in Deutschland bekannte
spanische Komponist Christóbal Halffter vor einem Jahr bei
der Uraufführung seiner Don Quichote-Oper einen
der inzwischen zahlreichen Wege gezeigt, diesem Vergleich geschickt
auszuweichen: Zwar hatte Halffter mit Cervantes Roman eine
Vorlage gewählt, die an Berühmtheit kaum zu überbieten
ist. Doch war er vom herkömmlichen Erzählen abgewichen,
hatte mit einem klugen dramaturgischen Schachzug die Geschichte
selbst als bekannt vorausgesetzt und die Verfügbarkeit der
Weltliteratur zum eigentlichen Thema gemacht. Neben dem in Deutschland
etwas bekannteren Halffter ist Luis de Pablo der zweite wichtige
spanische Komponist aus der Generation der um 1930 Geborenen. Für
das Teatro Real war es eine Selbstverständlichkeit, dem einen
Komponisten nicht zu versagen, was dem anderen gewährt worden
war: als nachträgliches, repräsentatives Geschenk zum
70. Geburtstag die Uraufführung einer üppig ausgestatteten
Musiktheaterarbeit im großen Hause bühnentechnisch
gesehen dem größten in Europa. La Señorita
Cristina, de Pablos vierte Oper, begibt sich auf die Spuren
des Fantastischen und Magischen. Der Komponist richtete dafür
die 1935 entstandene gleichnamige Novelle des rumänischen Religionswissenschaftlers
und Romanciers Mircea Eliade ein. Und transformierte sie in eine
geradezu mustergültige Literaturoper: sozusagen in Bescheidenheit
auftrumpfend, mit dem Anspruch, die Perspektiven des Textes nachzuzeichnen.
Der Ort der Handlung ist ein Geisterhaus. Hier versetzt die Titelheldin
Cristina, die aus ungeklärten Umständen ermordet worden
war, mit dem Spuk nächtlicher Auferstehungen die gesamte Bewohnerschaft
in Angst. Einer der Gäste, der Maler Egor, versucht dem ein
Ende zu bereiten. Doch hat es Cristina gerade auf ihn abgesehen.
Mehrmals und immer entschiedener nähert sie sich ihm mit unmissverständlichem
Liebesverlangen. Das Ganze geht schief, weil Egor Cristinas
noch blutende Wunde entdeckt und bei ihr vampirhafte Neigungen vermutet.
Er entzieht sich ihr und steckt das Geisterhaus in Brand
um dann allerdings ganz am Schluss erfahren zu müssen, was
an extatisch-überirdischen Liebeserfüllungen ihm durch
seinen Verzicht auf diese seltsame Dame aus dem Totenreich entgangen
ist.
Cristinas großer, üppig geratener Schlussmonolog, in
dem diese Einsicht manifest wird, markiert eine bezeichnende Differenz
zu dem von Eliade gewählten offenen Ende. Denn es ist eines
der zentralen Charakteristika dieses Werkes, dass es das Thema bruchlos
in die Gefilde einer klassisch koordinierten Operndramaturgie einzubetten
versucht. De Pablo geht damit weit hinter das Potenzial der Novelle
zurück. Er reduziert deren Perspektivenreichtum, ohne dabei
gleichzeitig genügend eigene Impulse hinzuzufügen und
erstarrt letztlich in ehrfurchtsvoller Ergebenheit vor einem Stück
Weltliteratur. Eine der wenigen Ausnahmen, die diese Regel bestätigen,
ist eine Stelle der Oper, an der ein skurril-grotesker Totentanz
stattfindet. Hier gehen Musik und Handlung eine eindrucksvoll eigenwillige
Verbindung ein, hier wird endlich einmal klar, dass nicht immer
nur die eine der anderen als Dienerin unterworfen sein muss.
Zur Verdeutlichung der Schnittstelle zwischen der Welt der Lebenden
und dem Totenreich einem Thema, das im Musiktheater gerade
in jüngster Zeit wieder Konjunktur hat schlägt
de Pablos Komposition einen vergleichsweise akademischen Tonfall
an. Er hat mit seltener Akribie auf Textverständlichkeit
geachtet, aber ist bei den umso mehr hervortretenden vokalen Gestaltungen
zu etlichen Klischees gelangt. Die orchestrale Seite immerhin ist
insgesamt um einiges überzeugender: Es brodelt und spukt in
dieser Musik mit gewissem Abwechslungsreichtum. Blockflötenklänge
etwa sorgen für einige faszinierend fahle Tönungen. Und
man merkt de Pablos Partitur streckenweise auch an, dass er mit
vielen klangfarblichen Errungenschaften der Nachkriegsavantgarde
souverän umgehen kann.
Wenn seine neue Oper dennoch insgesamt um einiges zähflüssiger
erscheint als verschiedene andere seiner Werke, so wird dieser Eindruck
durch die Uraufführungsinszenierung noch erheblich verstärkt.
José Hernández betont die beschaulichen und konventionellen
Momente des Librettos und ist in seiner Zeichensprache auch dann
gefällig und harmlos, wenn am Schluss alles in Auflösung
gerät. Auch in inszenatorischer Hinsicht hatte Christobal Halffter
bei seiner Opernuraufführung vor einem Jahr mit der Verpflichtung
Herbert Wernickes eine weitaus glücklichere Hand gehabt. Wernickes
Arbeit gehörte zum Suggestivsten, was an diesem vor einigen
Jahren wiedereröffneten Hause bislang zu erleben war. So besteht
kein Zweifel daran, dass der in Madrid eigentlich als konservativer
geltende Halffter gegenüber seinem dauernden Konkurrenten de
Pablo diesmal eine Art Punktsieg errungen hat. Bleibt noch zu sagen,
dass die sängerischen Leistungen erneut kaum Wünsche offen
ließen.
Traditionell ist das Ensemble dieses Hauses das wie schon
bei der Halffter-Oper auch diesmal ganz ohne Gäste auskam eine
seiner Stärken. Doch auch das Opernorchester unter José
Ramón Encinar bewies mit einer weitgehend präzisen Leistung,
dass man in Madrid das Potenzial hat, den neuerdings eingeschlagenen
Weg mit zeitgenössischen Werken konsequent fortzusetzen.