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nmz-archiv
nmz 2001/04 | Seite 4
50. Jahrgang | April
Cluster
Zurück in die Zukunft
Die FAZ übertitelte einen Artikel in ihrer Ausgabe
vom 19. Februar 2001 mit Unschuldsorgel. Darin wird
die Frage aufgeworfen, welche Rolle Restaurationen von Gebäuden
und Instrumenten in unserer Zeit spielen können. Die Orgel
der Frauenkirche in Dresden 1736 von Gottfried Silbermann
erbaut hatte ursprünglich 43 Register. Johann Sebastian
Bach hat auf diesem Instrument gespielt ein Umstand, der
der Orgel posthum offensichtlich den Status einer (freilich verloren
gegangenen) Berührungsreliquie verschafft. Bevor Kirche samt
Orgel im letzten Weltkrieg völlig zerstört wurden, war
das Instrument dreimal grundlegend umgebaut worden (1819, 1911/12
und 1939 bis 1943) und verfügte am Schluss über 85 (!)
Register, Fernwerk und Fernspieltisch. Damit stellte sich die Frage:
Welches historische Stadium wird nun rekonstruiert? Es scheint ein
typisches Problem des auslaufenden 20. Jahrhunderts zu sein: Wo
die Kathedralisierung der Museen und die Musealisierung
der Kathedralen zum Gestaltungsprinzip wird, da verbinden
sich historisch-historisierende Sehnsucht und rein vergangenheitsbezogene
Wissenschaftlichkeit zu einer gehaltvollen, aber schwer verdaulichen
Substanz womöglich unter Verzicht auf die bewusste Akzentsetzung,
Gegenwart und Zukunft neu zu gestalten. Dies ist kein orgelspezifisches
Problem dies beginnt schon mit dem maßstabsgetreuen
Wiederaufbau einer völlig zerstörten Kirche, die sich
nun in eine total veränderte Umwelt einfügen muss. Was
soll damit demonstriert werden? Dass letztlich doch die Ästhetik
über die Gewalt der Zerstörung durch einen Krieg siegen
kann?
Die neue Orgel wird nun eine modifizierte Rekonstruktion
sein: 71 Register wird sie bekommen das sind mehr, als sie
zu Beginn und weniger, als sie bei ihrer Zerstörung hatte.
Auch Register Silbermanns will man wieder bauen einige! Und
später hinzugekommene Register wird es auch wieder geben
einige! Das Instrument wird mechanisch und erhält trotzdem
einen Fernspieltisch. Die Stimmung wird geteilt: Einige Register
werden (für die historische Aufführungspraxis) einen Halbton
tiefer gestimmt als der Rest der Orgel. Der FAZ-Artikel
schließt: Kompromissloser wurde nie ein Kompromiss geschlossen.
Vor uns sehen wir das Trauerspiel einer zutiefst verunsicherten
Zeit: Die, die sich nicht ins 18. Jahrhundert aus dem Staub machen,
schwanken verängstigt zwischen Damals war alles besser
und Heute können wir das anders machen. Auf die
Idee, von einem guten Orgelbauer eine gute Orgel bauen zu lassen,
ist keiner gekommen.