[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/04 | Seite 5
50. Jahrgang | April
Feature
...explose comme un virus...
Der Musiker Erik M · Von Hanno Ehrler
Alternativen lautete 1997 das Thema der Arbeitstagung
des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung.
In diesem Kontext stellte die Musikologin Martha Brech unter der
Bezeichnung electronic listening elektronisch erzeugte
Musik vor, die bis dahin im Neue-Musik-Bereich als weitgehend unbekannt
gelten konnte: komplexe Collagen aus Samples und synthetisierten
Klängen von Musikern, die aus dem sogenannten U-Musik-Bereich
oder der improvisierten Musik kommen.
Erik Ms Instrumente: Musikwiedergabegeräte
jeder Art. Foto: Laurent Thurin
Die von Martha Brech vorgestellten Titel von den Gruppen Brüsseler
Platz 10 A-Musik, Mouse on Mars oder Oval
sowie Stücke von Achim Wollscheid oder DJ Spooky provozierten
Widerstand bei den E-Musik-Komponisten. Sie wollten ihre Werke mit
den aus spielerischer Improvisation sowie Rock-, Pop- und Techno-Elementen
produzierten Musik nicht verglichen sehen, obwohl sie in Bezug auf
strukturelle Komplexität, klangliche Avanciertheit und ästhetische
Konzepte der zeitgenössischen E-Musik nicht nachstehen. Bis
heute hat sich an der Abgrenzung der zeitgenössischen E-Musik
gegenüber anderen musikalischen Phänomenen nicht viel
geändert. Zwar beginnen sich einige Komponisten zunehmend für
Phänomene wie electronic listening (meistens neue
elektronische Musik genannt) zu interessieren; Tonsetzer wie
etwa Bernhard Lang oder Rolf Riehm greifen beim Komponieren Strukturen
und Techniken aus diesem Bereich auf. Aber es fehlt weiterhin an
theoretischer Auseinandersetzung damit, auch in Veröffentlichungen
über sogenannte U-Musik. Und die neue elektronische Musik,
die Anfang der 90er-Jahre entstand, erklingt auf Neue-Musik- Veranstaltungen
nach wie vor sehr sporadisch und fungiert in der Regel als exotisches
Element: in Darmstadt trat Brüsseler Platz 10 A-Musik
auf, im WDR die britische Gruppe Stock, Hausen & Walkman
und bei den letzten Darmstädter Ferienkursen der Franzose Erik
M, der zu den wohl interessantesten und avanciertesten Musikern
aus diesen Bereich gehört.
Erik M wurde 1970 in der Nähe von Mühlhausen geboren
und absolvierte keinerlei musikalische oder akademische Ausbildung.
Er begann Bass und E-Gitarre zu spielen und arbeitete seit seinem
17. Lebensjahr mit Rockbands. Dies führte ihn nach Marseille,
wo er mit Gruppen spielte, die industriellen, sehr geräuschhaften
Rock produzieren. Dort begann er mit Tonbändern und Sampling
zu arbeiten, später mit einem Walkman mit Lautstärkepedal
und mit Plattenspielern. Heute besteht sein Equipment aus allen
möglichen Geräten, Hi-Fi-Komponenten wie Minidisc- und
CD-Player, aber auch Low-Fi-Geräte wie tragbare Plattenspieler
aus den 60er- und 70er-Jahren. In unterschiedlichen Zusammenstellungen
benutzt der Musiker diese Geräte als Instrumente, zum Beispiel
eine Gruppe aus vier Plattenspielern oder ein Ensemble aus Plattenspielern,
Minidisc- und CD-Playern oder eine um einen Sampler ergänzte
Kombination. Dazu kommen Computer, denn neben Sampling von handelsüblichen
Tonträgern wie Schallplatten und CDs arbeitet Erik M mit Klangsynthese
und
-manipulation. Neben den musikalischen Aktivitäten experimentierte
Erik M auch im Bereich bildende Kunst, machte Collagen auf Papier
und mit Videos. Dies übertrug er auf die musikalische Arbeit,
weshalb viele Stücke komplex und vielschichtig gemixte Collagen
aus Klängen sind, die von Tonträgern, aus dem Fernsehen
oder dem Radio, manchmal aus der Klangumwelt stammen. Diese Klänge
benutzt der Musiker in fragmentisierter, teils stark fragmentisierter
Form. Da er das Material jedoch oft unbearbeitet lässt, klingt
vieles davon vertraut. Man hört Streicherklänge, Gesangsfetzen,
Bruchstücke von Refrains, Sprache, Techno-Rhythmen. Darüber
hinaus sind die Stücke mit Neben- und Störgeräuschen
durchsetzt, wie sie bei der Verwendung von audiovisuellen Medien
zwangsläufig entstehen: Knistern beim Abspielen von Schallplatten,
Laufgeräusche der Nadel in den Rillen, Rauschen von alten Aufnahmen
oder beim Radioempfang, Geräusche aus dem Computer, zum Beispiel
spezifisches Knacken, das Programme für digitale Tonaufnahme
und -bearbeitung erzeugen.
Die Geräusche wirkten, so Erik M, wie ein Virus in der Musik,
der das Konventionelle und das Gewohnte zum Explodieren bringe.
Erik M verwendet Musikklänge und Störklänge gleichermaßen
bei der musikalischen Arbeit. Beides repräsentiert das Material,
das über audiovisuelle Medien zu hören ist, einerseits
Musik- und Sprachaufnahmen aller Art, andererseits technische Störgeräusche
und Verzerrungen. Erik Ms Stücke sind daher audiovisuell geprägt,
was der Musiker durch Präparierungen der verwendeten Tonträger
und Geräte betont und verstärkt, zum Beispiel durch Manipulation
der Schallplatten. Einige hat er zerbrochen und wieder zusammengeklebt,
andere abgeschliffen, so dass die Oberfläche des Vinyls mehr
oder weniger glatt ist und nur noch Spuren der einstigen Rille aufweist;
wieder andere sind durch das Versetzen des Mittellochs dezentriert.
Schließlich dienen auf Schallplatten aufgeklebte Papierstückchen
als Stopper für den Tonarm: er wird regelmäßig an
eine bestimmte Stelle zurückgeworfen, so dass Loops entstehen.
Ähnlich wie bei minimal-Stücken der E-Musik sind diese
Loops kleinere Klangeinheiten, die addiert beziehungsweise repetiert
werden. In anderen Stücken greift Erik M auf andere Verfahren
zurück: Collagieren, Samplen, Klangsynthese und -bearbeitung
per Computer, alles Arbeitsweisen und Kompositionstechniken der
avancierten, zeitgenössischen Musik, im Besonderen der elektronischen
Musik und der musique concrète. Genau wie diese verwendet
Erik M Technologie, Geräte vom Plattenspieler bis zum Computer
und Tonmaterial von Umweltaufnahmen über Tonkonserven bis hin
zu synthetisiertem Klang. Schließlich hat er eine Notation
für seine Musik entwickelt. Er schreibt grafische Partituren,
die die Struktur seiner Stücke, die Geräte, die Tonträger
und die Effekte auf einer Zeitachse präzise verzeichnen. Mit
diesen Partituren kann jeder, der die Geräte und Tonträger
besitzt, das jeweilige Stück nachspielen. Daneben verwendet
Erik M sein Instrumentarium zum freien Improvisieren. Die Ergebnisse
beider Prozesse, der Improvisation und der Komposition klingen dabei
sehr verwandt.
Wie auch andere Musiker der neuen elektronischen Musik
bezieht Erik M sein musikalisches Material aus dem Bereich der Musikreproduktion,
sowohl die Hardware wie Abspielgeräte, Computer
und Sampler als auch die Software wie Schallplatten,
CDs, Kassetten, Minidiscs sowie Klänge aus Fernseh- und Radiosendungen.
Im Gegensatz zur klassischen Collage, wo mit den Bedeutungen und
der Herkunft des Materials gespielt wird, interessiert sich Erik
M für diese Bedeutungen nur am Rande, obwohl sie ihm durchaus
bewusst sind. Das dokumentiert eine neue Haltung zum musikalischen
Material, ein Entfernen oder gar Ablösen vom Zwang, das Material,
das man verwendet, historisch zu legitimieren.
Im Vordergrund steht nicht mehr die Erfindung und die Formung eines
bestimmten Materials, sondern die Nutzung von bereits erfundenem
und auf Tonträgern enthaltenem Klang, und zwar in der vollen
Breite des akustischen Spektrums. Ein solches Komponieren gleicht
weniger kreativem Gestalten, eher einer komplexen Art von kreativem
Konsumieren. Es geht nicht mehr primär um konzeptionelles Entwerfen
von musikalischer Struktur, sondern um Hören, Reagieren und
Zusammenführen von heterogenen Musik-, Klang- und Geräuschfragmenten.
Erik Ms Musik ist daher eine Art musique concrète, aber in
einem ganz eigenwilligen Sinn. Sie besitzt Elemente der eigentlichen
musique conrète, wo musikalische Strukturen aus Aufnahmen
der Klangumwelt gebaut werden, und der musique concrète instrumentale,
ein Begriff, den Helmut Lachenmann für seine Musik geprägt
hat. Er bedeutet das Komponieren mit klassischen Instrumenten, aber
mit den Klängen, die beim Tonerzeugungsprozess entstehen, wie
Blas- oder Zupfgeräusche, die nicht zum eigentlichen Ton gehören.
Musique concrète und musique concrète instrumentale
deuten explizit auf Außenwelt, auf akustische Alltagserfahrungen,
die unmittelbar in die Musik einbezogen werden. Gleiches gilt für
die Arbeit von Erik M. Er benutzt Instrumente, die einem jeden wohlvertraut
sind, nämlich Musik-Abspielgeräte. So wie Lachenmann die
Nebengeräusche der Instrumente komponiert, so entfaltet Erik
M die Eigen-Klänge der Geräte und Tonträger. Er lässt
die Geräusche der Abspielnadel eines Plattenspielers zu Gehör
kommen, oder er betont die Topografie einer Schallplatte durch Präparierung
wie Beschädigung der Oberfläche oder Dezentrierung. Und
das auf den Schallplatten gespeicherte Material, meistens Musikaufnahmen,
ist einem ähnlichen Präparierungs-Prozess
unterworfen. Es wird nicht einfach abgebildet, sondern durch diffizile
Fragmentisierung und komplexe Verflechtung aus seinem ursprünglichen
Zusammenhang herausgelöst. Erik Ms musikalische Arbeit bewegt
sich nicht in einem abgezirkelten, ausdrücklich der Kunst zugewiesenen
Klangraum zeitgenössischen Komponierens, wo akustische Realitäten
des Alltags zunächst ausgegrenzt sind, im Gegenteil. Sie bezieht
einen gewichtigen Teil der heutigen Musikumwelt mit ein, denjenigen,
der vom Musikreproduktionsprozess beherrscht wird, zum Beispiel
die allgegenwärtige Musikberieselung, wo Stücke, ganz
gleich ob von Bach, Beethoven, Guildo Horn oder Michael Jackson,
zum Konsumprodukt funktionalisiert sind. Darüber hinaus hat
sie sich von der Bindung an einen bestimmten Klangraum gelöst,
an dem die zeitgenössische E-Musik noch haftet. Der technische
Stand des klassischen Instrumentariums datiert ins 19. Jahrhundert,
ohne dass sich die Veränderungen durch die Entdeckung der Elektrizität
vor 200 Jahren darin spiegeln; allenfalls wird live-Elektronik hinzugefügt.
Auch die elektronische E-Musik, in der Klangbegrenzungen aufgehoben
scheinen, bewegt sich meistens in einem Kunstraum ohne Einbezug
gegenwärtiger Musik- und Klangerfahrungen. Das heißt
nicht, dass ein solches Komponieren nicht sinnvoll und ästhetisch
spannend sein kann. Vielleicht ermöglicht aber der Blick auf
Phänomene der neuen elektronischen Musik den Ermüdungserscheinungen,
die in der neuen Musik zu beobachten sind, der zunehmenden Orientierungslosigkeit
und der leicht variierten Wiederholung der immer gleichen Kompositionsschemata
entgegenzuwirken. Dies scheint um so interessanter, als sich auch
bei Rock, Pop und Techno eine Öffnung hin zu avanciertem Komponieren
beobachten lässt. Erik Ms musikalischer Werdegang steht exemplarisch
dafür ein. Ausgehend von der Rockmusik entwickelte er die Collage-Arbeit
mit Samples und begann in den letzten Jahren zunehmend an der Substanz
der Klänge selbst zu arbeiten. Er schöpft sein Material
aus den Ressourcen von auf Tonträger funktionalisierter Musik,
bricht aber die Funktionalisierung auf durch eine derartig differenzierte
und komplexe Splitterung und Verschiebung, dass seine Stücke
über den Charakter der gemixten Collage hinaus ein eigenes
Wesen entwickeln. Dazu tritt dann die Manipulation der Klänge.
Meine Arbeit geht ganz klar mehr und mehr in den Bereich der
elektroakustischen Musik, weil ich mehr und mehr an der Textur des
Klangs arbeiten will. Ich habe jetzt einen ganz guten Computer,
der mir die Möglichkeit bietet, wirklich in das Innere des
Materials einzudringen, gewissermaßen in seine molekulare
Substanz, in seinen atomaren Kern. Da will ich hin... (Erik
M in einem Interview mit dem Autor am 2.7.1999 in Marseille)
Anspieltipps:
Zygosis, Sonoris SON-06 (Sonoris, 28, rue du Parlament Ste-Catherine,
F-33000 Bordeaux)
Frame, Metamkine MKCD026 (Metamkine, 20, passage des Ateliers,
F-38140 Rives)