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nmz-archiv
nmz 2001/04 | Seite 27
50. Jahrgang | April
IG Medien
Fachgruppe Musik
Musikunterricht für die Gesellschaft
Kulturpolitisches Symposium der Fachgruppe Musik in der IG Medien
in Darmstadt
Gerne berufen sich Musikerzieher/-innen und alle, die sich um die
finanziellen Ausstattungen aller Unterrichtsstätten bemühen,
auf die Beobachtung, dass Schülerinnen und Schüler von
Musikschulen augenscheinlich seltener kriminell auffällig oder
gar straffällig werden. Dass sie darüber hinaus auch ganz
offenbar mit ihrem sozialen Umfeld besser zurechtkommen und sogar
in ihren schulischen Leistungen signifikant besser dastehen als
Kinder und Jugendliche, die keine musikalische Förderung erhalten,
ist inzwischen sogar bewiesen. Dennoch scheinen derartige Erkenntnisse
nicht in die Köpfe derjenigen vorgedrungen zu sein, die letztendlich
über die notwendigen Finanzmittel zu entscheiden haben.
Insbesondere die kriminalpräventive Wirkung von Musikerziehung
ist äußerst schwer nachzuweisen, wenn überhaupt,
sie wird in Gesprächen vor allem mit Kommunalpolitikern zwar
nicht in Abrede gestellt, aber das süffisante Lächeln,
mit dem nach Beweisen gefragt wird, regt jeden auf, der sich irrigerweise
auf die Kraft des Offensichtlichen bemüht. Die stets geäußerte
plakative Behauptung, die Finanzierung einer Musikschule sei langfristig
billiger, als die des Jugendstrafvollzugs, hilft genau so wenig,
wenn echte Zahlen fehlen.
Sind die, nennen wir sie einmal so: gesellschaftlichen Nebenwirkungen
von Musikerziehung wirklich so unbestreitbar bewiesen? Als Otto
Schily seinen mittlerweile berühmten Satz im Bundestag prägte,
dass die Schließung von Musikschulen eine Gefährdung
der inneren Sicherheit darstelle, erhielt er sehr viel Beifall,
einer schriftlichen Nachfrage der IG Medien konnte er aber auch
keine Faktenunterstützung zukommen lassen. Die Antwort war
ernüchternd, wirklich Greifbares lag zu dieser These nicht
vor. Daher also der Versuch der Fachgruppe Musik, nach dem Motto
der Gelben Seiten, jemanden zu fragen, der sich damit auskennt.
Primäre Prävention
Prof. Dr. Dr. Michael Bock, Universität Mainz, und Prof.
Dr. Hans Günther Bastian, Universität Frankfurt/M., referierten
über ihre Forschungen zur Kriminalprävention und zur Förderung
der sozialen Kompetenz. Peter Korstian vom Hessischen Landeskriminalamt
Wiesbaden steuerte im Abschlussgespräch Beobachtungen aus der
Praxis bei.
Der Kriminologe Bock war gezielt als Nichtmusiker eingeladen worden,
um den Verdacht auszuräumen, die Kulturfuzzis sprächen
mal wieder nur unter sich. Dementsprechend unverkrampft hatte er
sich auch auf ein für ihn neues Terrain begeben und den Versuch
gemacht, Musikerziehung in die kriminologische Betrachtungsweise
einzubauen. Für niemanden überraschend beklagt er den
Mangel an einschlägiger Forschung und bestätigte somit
den argumentativen Notstand. Genauso wenig überraschend, wenn
auch für einige etwas ernüchternd, war die sehr große
Vorsicht, mit der Bock das Thema anging. Nach der ermutigenden Feststellung,
dass vor allem Musikschulen sehr vielen Kriterien entsprächen,
die es mehr als nahe legten, dass die Voraussetzung für eine
kriminalpräventive Wirkung vorlägen, relativierte er alles
wieder mit Problemen der Komplexität und Spezifität. Zunächst
also: ...so ergibt sich relativ zwanglos, dass die traditionelle
Musikerziehung an den allgemein bildenden Schulen oder auch der
Unterricht an den Musikschulen in den Bereich der primären
Prävention gehört. Speziellere Ansätze, die man vielleicht
eher als Musik-sozialarbeit bezeichnen könnte oder
auch alle Formen von Musiktherapie hingegen sind an Personengruppen
adressiert, die in der einen oder anderen Weise als gefährdet
gelten oder bereits auffällig geworden sind. Sie gehören
daher, je nach konkreter Ausgestaltung der einzelnen Projekte und
Maßnahmen, in den Bereich der sekundären oder tertiären
Prävention. Dann die Einschränkung: Wir müssen
uns der Tatsache stellen, dass in unausgelesenen Gruppen
und von solchen müssen wir ausgehen, wenn wir die Musikerziehung
an allgemein bildenden Schulen im Auge haben die Basisrate
nennenswerter Straffälligkeit nur zwei bis fünf Prozent
beträgt. Dies bedeutet, dass aus einer Schulklasse von 30 Kindern
durchschnittlich nur ein Einziges in einem Ausmaß straffällig
wird, dass man dies nicht mehr als die normale und episodenhafte
Bagatellkriminalität junger Menschen ansehen kann. Wenn nun
festgestellt wird, dass Musikerziehung generell, wenngleich in bescheidenem
Ausmaß, die beschriebenen Wirkungen hat, so braucht diese
Wirkung gerade nicht bei diesem gefährdeten Kind aufgetreten
sein. Mit anderen Worten, wir wissen nicht, ob sich die positiven
Effekte nur bei denen einstellen, die ohnehin nicht nennenswert
straffällig würden. Wir wissen nicht einmal, ob sich nicht
sogar negative Effekte bei den Gefährdeten einstellen, etwa
weitere Misserfolgserlebnisse, soziale Distanzierungserlebnisse,
Leistungsdefizite in anderen Bereichen oder eine besondere Anfälligkeit
für subkulturelle Wertorientierungen, die ja auch vielfach
über musikalische Wege transportiert werden. Auch dies wäre
ja bei diesen Zahlenverhältnissen durchaus mit den generell
beziehungsweise statistisch positiven Befunden zu vereinbaren.
Bock kommt zu dem Schluss: Wenn wir methodisch geeignete Untersuchungen
hätten, in denen in quasi-experimentellen Designs Straffällige
mit Kontrollgruppen hinsichtlich des Einflusses von Musikerziehung
beziehungsweise Musiksozialarbeit verglichen würden, könnten
wir vielleicht mehr sagen. Wir haben sie aber bisher nicht.
Bock stellt aber ebenfalls fest: Fragen wir hingegen von
den spezifisch kriminologischen Untersuchungen aus, so finden sich
gute Gründe, Musikerziehung an Musikschulen, aber auch Projekte
und Initiativen sogenannter Musiksozialarbeit mit bekannten und
eindeutigen Befunden zum Freizeit- und Kontaktbereich in Beziehung
zu setzen. Musizieren ist strukturierte Freizeit und sie kann zu
tragenden Bindungen führen, was jedenfalls dann unbestreitbar
kriminalpräventiv wirkt, wenn die dadurch entstehenden Bindungen
keine subkulturelle Schlagseite haben.
Ein bis hierher doppelter Erfolg des Symposiums: Die Ausgangsvermutung
der kriminalpräventiven Wirkung bleibt bestehen, der Ruf nach
spezifischer Forschung kann nur im Interesse aller, also auch der
Gesellschaft liegen, gerade um dem finanziellen Streichkonzert wider
besseren Wissens entgegenzuwirken.
Bastians Berliner Studie
Hans Günther Bastian stellte die Forschungsergebnisse einer
Berliner Langzeitstudie vor, die Leistungsfähigkeit, soziale
Kompetenz und Intelligenz von Grundsschulkindern mit und ohne qualifizierten
Musikunterricht untersucht hatte. Eindrucksvoll belegte er hier,
was allen Musikpädagogen intuitiv schon immer klar war: Trotz
des höheren zeitlichen Einsatzes, den die Kinder mit Musikausbildung
hatten (Üben, Proben etc.) war nicht nur kein Leistungsabfall
gegenüber den damit unbelasteten Kindern erkennbar.
Leistungssteigerungen, erkennbar besseres kommunikatives, also soziales
Verhalten untereinander und gegenüber der außerschulischen
Umwelt waren signifikant. Video-Dokumentationen zeigten außerdem
den hohen Spaßfaktor der Kinder. Bastian erzählt:
Einem verhaltensauffälligen Schüler, dem als höchste
Sanktion der Verweis von der Schule droht, wurde der lange gehegte
Wunsch zum Gitarrespiel erfüllt, was dann sozialintegrativ
von Erfolg gekrönt war. Er fühlte sich in der Gitarrengruppe
an- und aufgenommen, konnte seinem Hobby nachgehen und war fortan
bereit, sich in diese Gruppe zu integrieren und sich weitergehend
in die neue musikbetonte Klasse einzubringen.
Eine Schülerin der 6. Klasse hat einmal gefragt: Wie
kommt es denn, dass man nach dem Musizieren so friedlich ist?
Eine Junge, der als sozial schwierig eingestuft war, vor dem sowohl
Lehrer als auch Schüler Respekt hatten, entwickelte
sich zu einem hervorragenden Musiktalent. Er spielte Saxophon und
Schlagzeug, was von allen auch positiv anerkannt wurde. Seine Anerkennung
konnte sich der Junge in der Musik bei öffentlichen Auftritten
holen. Dieses Talent hat ihn auch davor bewahrt, von den Lehrern
und den Mitschülern abgestempelt zu werden. Ein
ausländischer Junge kam als Seiteneinsteiger in der 5. Klasse
an die Schule. Er zählte zu den kräftigen und aufgrund
seiner Erscheinung furchteinflößenden Kindern. Noch bevor
er sich in deutscher Sprache verständigen konnte, spielte er
im Orchester die Altflöte. Dieser Junge hatte nach Einschätzung
der Lehrer alle Voraussetzungen, aggressiv zu werden, wenn er sich
nicht auf diese Weise von den Mitschülern angenommen und sich
verstanden gefühlt hätte.
Wie Bock warnt natürlich auch Bastian vor Vereinfachungen
aber dennoch: Was hier den Anschein musikpädagogischer
Kochrezepte im Sinne von Man nehme Musik... hat oder
an die HB-Männchen Werbung Dann geht alles wie von selbst
erinnert, ist nun einmal unleugbare schulische Realitätserfahrung.
Und er schließt: Die Ergebnisse dieser Studie ergeben
allein aus sozialer Sicht einen klaren musikerzieherischen Auftrag
in eine Metapher gekleidet: Setzen wir gegen die physische
Gewalt die psychische Macht der Musik! Denn der Geist der
Gewalt ist so stark geworden, weil die Gewalt des Geistes so schwach
geworden ist. (Leonhard Ragaz, Schweizer Theologe).
In der lebhaften Abschlussrunde zeigte sich auch der LKA-Mann
Korstian (dort Jugendkoordinator) stark beeindruckt von den vorgelegten
Ergebnissen. Er gab unumwunden zu, dass in der Präventionsarbeit
der Polizei die Musikerziehung eigentlich kaum eine Rolle spiele.
Aber dies müsse sich ändern, denn es sei doch erkennbar,
dass sie zumindest ein Weg unter anderen sei, ein Abdriften von
Kindern und Jugendlichen zu bekämpfen.
Bedauert wurde das Fernbleiben von Persönlichkeiten aus der
Politik. Aber Hauptziel des Symposiums war auch weniger die publizistische
Außenwirkung. Bereitstellung von Argumentationshilfen für
alle, die sich vor allem in Kommunen mit der mehr als lästigen
Kostenfrage herumschlagen müssen, war das eigentliche Anliegen.
Die Präsenz allein dreier Landesmusikräte sprach dafür,
dass die Thematik nicht nur einen Nerv getroffen hatte.
Alle Anwesenden waren sich einig, dass niemandem erlaubt sein dürfe,
sich hinter Unwissen bei der Streichung von Finanzmitteln für
Musikerziehung zu verstecken. Die Referate und eine Zusammenfassung
der Diskussionsbeiträge werden in der nächsten Zeit zu
einer Dokumentation zusammengefasst werden und sind dann bei der
IG Medien erhältlich.