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nmz-archiv
nmz 2001/04 | Seite 8
50. Jahrgang | April
Kulturpolitik
Nerven-Autobahnen, Transfer-Trug und lebendige Musik
Argumente für die musikalische Bildung auf dem Prüfstand
· Von Eckart Altenmüller
Natürlich würde die Welt nicht untergehen, wenn der Musikunterricht
an den Schulen ganz abgeschafft würde. Und auch ohne öffentlich
geförderte Musikschulen wird es Eltern geben, die finanzkräftig
genug sind, um ihren Kindern das Erlernen eines Instrumentes zu
ermöglichen. Aber dieses Szenario hat für mich etwas Beklemmendes.
Es gab Zeiten, in denen Musik Hauptfach war. Man muss nicht unbedingt
zurückgehen bis zu Aristoteles, der in seinen Vorschlägen
zur Pädagogik die Bedeutung der Musik für die Charakterbildung,
aber auch für Erholung und edlen Zeitvertreib, gewissermaßen
für die Erhöhung der Genussfähigkeit betonte. Vielleicht
genügt ein zugegebenermaßen weiter Blick in andere Gegenden,
zum Beispiel nach Bali. Als Student wanderte ich mit einem Freund
über die Insel. Jeden Abend hörten wir in den Dörfern
den Kindern zu, die in den Gamelanschulen diese hoch differenzierte
Musik einstudierten übrigens rein nach Gehör durch
Imitation, gewissermaßen ein Leistungskurs Gamelan.
Was bringt Menschen aller Kulturen dazu, Musik wichtig zu finden
und Musik zu machen? Wozu besitzt Homo sapiens neben der Sprache
ein zweites Kommunikationssystem? Anthropologen vermuten, dass der
evolutionäre Nutzen von Musik mit der Herstellung sozialer
Bindung und mit der Organisation des Gemeinschaftslebens zu tun
haben. Musik verbindet (Wiegenlieder, Tanz), Musik strukturiert
Tätigkeiten (früher Spinner- und Erntelieder), Musik stärkt
das Wir-Gefühl (Marschmusik, Nationalhymnen), Musik kanalisiert
Aggressionen und Musik erzeugt manchmal Rausch ohne
Reue. Also nicht nur mit Sport, auch mit Musik gegen Gewalt und
Drogen! Interessant ist, dass Menschen, denen Musik nichts
sagt es handelt sich um immerhin etwa fünf Prozent
der Bevölkerung von Industrienationen nach neuen Befunden
auch in anderen sozialen Bereichen auffallen sollen. Sie seien misstrauisch,
eigenbrötlerisch und unkommunikativ... Grund genug, das Verständnis
zur Musik frühzeitig zu fördern. Sammeln wir weitere Argumente
für Musik in der Schule.
neurobiologische Argumente?
Häufig verwendet, aber meiner Meinung nach wenig stichhaltig
ist das neurobiologische Argument, nämlich dass
sich Musik positiv auf die Hirnentwicklung auswirke. In unserem
Labor konnten wir zeigen, dass durch Klavierunterricht Nervenzellverbindungen
zwischen den Hörzentren und den sensomotorischen Zentren der
Großhirnrinde gebildet oder zumindest aktiviert werden, ein
hirnphysiologisch hoch interessanter Befund. Jedoch ist der Nutzen
solcher Nervenautobahnen für andere Fertigkeiten
schwer zu belegen. Ja, es stimmt, Berufsmusiker haben eine besondere
Gehirnorganisation verglichen mit ihren nicht musizierenden Mitmenschen.
Die Verbindung zwischen beiden Hirnhälften, der Balken,
ist ausgeprägter, die für die Hände zuständigen
senso-motorischen Hirnregionen sind erweitert und das an der Feinkoordination
von raschen Bewegungen wesentlich beteiligte Kleinhirn ist größer,
ebenso wie bestimmte Abschnitte der Hörrinde. Das beweist aber
letztlich nur, dass sich unser Gehirn an lang dauernde, intensive
Spezialanforderungen anpassen kann, ein Phänomen, das in den
Neurowissenschaften als funktionsgesteuerte neuronale Plastizität
bezeichnet wird. Genauso wäre die senso-motorische Repräsentation
der Beinregion bei den Mitgliedern des Balletts unserer Staatsoper
vergrößert, wenn dies denn jemand untersuchen würde.
Vergleicht man die Intelligenzquotienten von Musikern und Nichtmusikern,
so findet man jedenfalls keine deutlichen Unterschiede.
Musik macht intelligent?
Damit sind wir schon beim zweiten Argument: Musik mache intelligent.
Dabei geht es um die Annahme, dass sich musikalische Ausbildung
auf andere Intelligenzbereiche auswirke, dass also ein Transfer
bestehe. Vorab: leider existiert bis heute keine Studie, die eindeutig
einen langfristigen Einfluss von Musikerziehung auf einen irgendwie
gearteten Intelligenzquotienten nachweist. Es ist richtig, dass
das Hören von rhythmisch abwechslungsreich strukturierter Musik
kurzzeitig die visuell-räumliche Vorstellungsfähigkeit
leicht verbessert und dass die kinästhetische Intelligenz sich
durch Erlernen eines Musikinstrumentes entwickeln lässt. Es
gibt Hinweise, dass Musizieren positive Auswirkungen auf die sozialen
Intelligenzen hat, vor allem auf die Fähigkeit, Gefühle
anderer Menschen wahrzunehmen und zu antizipieren. Derartige Transfer-Effekte
sind aber schwer in einem kontrollierten Experiment zu testen und
daher auch aus methodischen Gründen bis heute noch nicht eindeutig
belegbar. Wie will man Gefühle messen? Aber warum muss denn
Musikunterricht mit einem Transfer auf andere Fächer begründet
werden? Wer käme denn auf die absurde Idee, vom Mathematikunterricht
zu erwarten, dass er die Leistungen im Englischen verbessern würde?
Musik ist eine menschliche
Notwendigkeit und ein Teil unseres Lebens
Ich komme also zu dem wirklich stichhaltigen Argument: Musik ist
eine menschliche Notwendigkeit und ein Teil unseres Lebens. Der
Umgang mit Musik gehört in die Schule, weil Musik eine der
wenigen Möglichkeiten darstellt, Zugang zu den Dimensionen
des Unaussprechlichen zu finden. In einer Welt der alles überflutenden
medialen Geschwätzigkeit von Talkshows, Big Brothers und Reality-TV
brauchen wir in den Schulen Reservate des Nicht-mit-Worten sagbaren
und Schutzzonen der Emotionen. Musikunterricht, wie ich ihn mir
wünschen würde, erschließt Innenwelten und öffnet
die Ohren für ungewohnte Töne, für Zwischentöne,
Untertöne. Er schult den Sinn für Ästhetik und hilft
Abwehrkräfte gegen die Allgegenwart von Gebrauchsmusik zu entwickeln.
Und ein Musikunterricht, wie ich ihn mir wünschen würde,
macht Lust auf mehr, auf Musizieren, auf Singen, auf Jazz-Combo
und Schul-Band, auf Komponieren am Klavier oder am PC, auf Mitteilung
dieser Innenwelten. Stellen wir uns doch eine Gesellschaft ohne
Live-Musik vor die Weihnachtsfeier mit der CD der Regensburger
Domspatzen, das Schützenfest mit Musik aus Ghettoblastern,
die EXPO ohne die singenden und tanzenden Jemeniten. Ein Gefühl
der Trostlosigkeit kommt mich an wie an jenem Sonntagmorgen
in einer amerikanischen Vorstadt bei Glockengeläut vom Tonband
über Lautsprecher...
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Hannoverschen
Allgemeinen Zeitung