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nmz-archiv
nmz 2001/04 | Seite 1 & 8
50. Jahrgang | April
Leitartikel
Die Substanz vom Etikettenschwindel verdeckt
Hans Günther Bastian über seine Langzeit-Studie zur
musikalischen Bildung
Die Studie Musikerziehung und ihre Wirkung hat ein
kaum für möglich gehaltenes Echo in Öffentlichkeit
und Fach ausgelöst, ein Echo, das von euphorischer Zustimmung
bis zu relativer Ablehnung reicht, wobei letztere nicht selten auf
Missverständnissen, Fehldeutungen und falschen Ansprüchen
an die Studie basiert. Allein die Wirkung der Ergebnisse in der
Öffentlichkeit ist erfreulich. Denn unser Fach lebt nicht nur
nach innen, sondern auch nach außen in der bildungspolitischen
Szene. Wann haben Der Spiegel, die SZ, die
FAZ, die taz und andere Printmedien, verschiedene
Rundfunk- und Fernsehsender sich eines musikpädagogischen Themas
mit derartigem Interesse angenommen? Musik in Schule und Gesellschaft
ist erneut und verstärkt zu einer öffentlichen Frage geworden,
und die Medien erweisen sich als wichtige Kombattanten
im Kampf um den Erhalt der Musik in den allgemein bildenden Schulen.
Irre-Führung?
Eine Kurzfassung der Bastian-Studie erschien
mit finanziert vom Deutschen Musikverleger-Verband
unter dem dubiosen Label Intelligent mit Musik
bei Schott.
Das ist gut so, gäbe es nicht unselige Schlagzeilenwucherungen
mit verkürzter Rezeption unserer Studie selbst unter
Fachkolleg/-innen. Mitunter hört und liest man Koch-Rezepten
gleich Musik macht klug, Musik macht kreativ, Musik macht
sozial verträglich, Musik macht.... Einer solch banalen
Monokausalität können sich die Autoren der Studie nicht
anschließen. Nirgendwo in der Studie steht geschrieben: Musik
macht intelligent!. Es ist trivial, aber offensichtlich nicht
überflüssig darauf hinzuweisen, dass es die
Wirkung der Musik auf den Menschen nicht
gibt. Jede Verabsolutierung der konkretisierenden Artikel kaschiert
die Komplexität der empirischen Wirklichkeit und muss sich
den Vorwurf unzureichender Differenzierung gefallen lassen. Methodologisch
gesprochen: Empirische Forschung kann allgemeine Probleme immer
nur an einer begrenzten Stichprobe mit ausgewählen Methoden
für einen bestimmten Zeitraum untersuchen nicht mehr,
aber auch nicht weniger. Musik macht intelligent heißt
im wissenschaftlichen und situativen Kontext der Studie seriös
formuliert:
Schüler im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren,
die eine erweiterte Musikerziehung nach der Art des Berliner Rahmenplans
(zweistündiger Fachunterricht Musik pro Woche + Lernen eines
Instrumentes + Ensemblemusizieren) erfuhren, steigerten nach drei
Jahren ihren IQ-Wert (errechnet aus einem relativ kulturunabhängigen
Intelligenztest) signifikant deutlicher als Kinder ohne dieses
Musik-Treatment.
Weiter zur Differenzierung unserer Befunde: Die IQ-Befunde nach
dem CFT wurden über ein zweites Intelligenztestverfahren so
nicht bestätigt (siehe AID-Ergebnisse in der Studie). Auch
hier zeigten Kinder mit Musik zunächst bedeutsame IQ-Zugewinne
(zwischen acht und zehn Jahren), die sich später aber wieder
an die Kinder ohne Musik anglichen (Reifungsegalisierungseffekt
nach Behne). Dieser IQ-Befund wird in Kommentaren und Nutzungen
der Studie erst gar nicht zitiert. Will sagen: Die Forscher und
Autoren der Studie wünschten sich nichts mehr als eine differenziertere
Rezeption der Studie selbst.
In der Frage nach möglichen
Beziehungen zwischen Intelligenz- und Musikalitätstests
ist nur ein Korrelationsschluss erlaubt
Das Motto der DVMV-Aktion Intelligent mit Musik hat
im Kontext der Studie nur eine begrenzte Gültigkeit eben unter
den vorlaufend genannten Bedingungen: Wer als Grundschüler
die Berliner Musikbetonung erlebt, hat zugleich die Chance, seine
kognitive Entwicklung zu befördern. Einschränkend muss
man hinzufügen, dass die Beziehung zwischen Musikalität
und Intelligenz keinen linear kausalen Zusammenhang abgibt, sondern
wohl eher eine kurvilineare Beziehung. In der Frage nach möglichen
Beziehungen zwischen Intelligenz- und Musikalitätstests ist
nur ein Korrelationsschluss erlaubt etwa nach dem Schema: Wer
gut bestimmte Geometrie-Aufgaben löst, hat auch eine gute Raumvorstellung.
Im Übrigen stehen wir in der Intelligenz-Musikalität-Diskussion
vor einem methodologischen Problem. Dass die Korrelationen zwischen
Intelligenz und musikalischer Begabung nicht höher oder Wirkungen
von Musik(erziehung) nicht sehr viel deutlicher ausfallen, wirft
ein prinzipielles Problem in der theoretischen Analyse des Zusammenhangs
zwischen Intelligenz und Musikalität auf. Es ist nämlich
grundsätzlich zu fragen, welche Teilfähigkeiten des Konstruktes
Intelligenz mit welchen Teilkomponenten der Musikalität
übereinstimmen, vor allem auch, welche dieser Komponenten als
messbare Größen in die diversen Tests eingehen. Zu vermuten
ist, dass musikalische Fähigkeiten wie (akustische)
Mustererkennung, Gestaltwahrnehmung, akustisches Gedächtnis,
Kreativität, Vorstellungsvermögen in den herkömmlichen
Intelligenztests nur eine begrenzte Rolle spielen. Insbesondere
ist Kreativität mit ihren Merkmalen Originalität, Flexibilität,
Ideenproduktion und so weiter durch traditionelle IQ-Tests kaum
erfasst worden. Viel wichtiger und interessanter wäre es, wenn
man in der künftigen Testforschung die Konstrukte Musikalität
und Intelligenz theoretisch genauer analysierte, definierte,
operationalisierte und konsequenterweise Musikalität
als Teilaspekt intelligenten Verhaltens in entsprechenden Intelligenztests
konzeptualisieren würde. Dieser Grundsatzfragen sollten wir
uns dringend annehmen, um zu valideren und zu aussagekräftigeren
Ergebnissen zu kommen.
Bastian gegen seine Liebhaber
verteidigen
Mittlerweile muss der Autor Bastian gegen seine Liebhaber
verteidigen, und warnen vor einem einseitigen Missbrauch der
Ergebnisse, Musik als Allheilmittel zum Pushen von IQs, für
soziale Therapien oder gegen Fußpilz einzusetzen. Vereinfachungen
in Schlagzeilen schaden eher als dass sie nutzen. Gleichermaßen
könnte man auch mit empirischen Nachweisen und historischen
Verweisen argumentieren: Musik macht dumm Musik macht
aggressiv Musik lässt Menschen blindlings marschieren
Musik... Denn, so ein Sprichwort in der Ukraine: Wenn
die Musik erklingt, ist der Verstand in der Trompete. Aber
selbst bei aller potenziellen Manipulation durch Musik, gilt die
alte Erkenntnis der Lateiner: Abusus non tollit usum,
der Missbrauch einer Größe hebt per se noch nicht ihren
Gebrauch auf, fordert ihn geradezu heraus.
Die Autoren finden es außerordentlich bedauerlich, dass
die Vielzahl der empirischen Ergebnisse der Studie etwa zur musikalischen
Begabung Sechs- und Siebenjähriger sowie zu deren Entwicklung
bis zum zwölften Lebensjahr (als Beitrag zur Begabungsforschung
im Grundschulalter), zu Konzentrationsleistungen, zu Angstgefühlen
und emotionaler Labilität, zur (musikalischen) Kreativität
und zum schöpferischen Denken, zur Entwicklung des Selbstwertgefühls
von Kindern, zu den allgemeinen Schulleistungen in sogenannten Hauptfächern
verschiedentlich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen werden
und im Schatten griffiger wie aufgeblähter Schlagzeilen verkümmern.
Auch die ausführlichen forschungsmethodischen und methodologischen
Überlegungen als Beitrag zur Forschung in der Musikpädagogik
treten bislang weitgehend in den Hintergrund. Die Wirksamkeit der
Musikerziehung wurde nämlich durch eine zusätzliche, in
der deutschen Musikpädagogik wohl erstmals eingesetzte Effekteüberprüfung
nach Bortz/Döring belegt. All dies ist bedauerlich für
die Fachdiskussion und im heutigen Kontext des Existenzproblems
von Musikunterricht an allgemein bildenden Schulen kontraproduktiv.
Im Übrigen: Ein nahezu zehn Jahre währendes Forschungsprojekt
darf eine detaillierte und differenzierte Rezeption erwarten.
bildungspolitische Motivation
Wir wollten mit primär bildungspolitischer Motivation nachweisen,
was Kindern in ihrer Persönlichkeitsentwicklung entgeht, wenn
der Staat sich vor Musik oder besser noch vor einer erweiterten
Musikerziehung drückt. Was ist die Folge, wenn Kinder tat-sächlich
mit Musik umgehen und wenn nicht? Damit möge auch die Unterstellung
entfallen sein, die Studie wolle Musik in den allgemein bildenden
Schulen primär über Transfereffekte legitimieren. Wer
dies behauptet, hat nicht gelesen. So hilfreich Musik auch für
das Humanum in unserer verhärteten Gesellschaft sein kann,
die Ergebnisse dürfen uns nicht dazu verleiten, Musikunterricht
seiner fachlichen-idiomatischen-ästhetischen Sinngebung und
Zielsetzung zu berauben. Gerade dadurch wirkt Musikerziehung ja
so wie sie wirkt! Musikerziehung soll zu allererst die Freude der
Kinder an der Musik fördern, als der Freude am Schönen,
am Spiel, am kreativen Selbsterleben eben in den Spiel-Räumen
der Musik. Wir haben als Musikerzieher unsere Kinder zu dieser Freude
an der Musik zu begaben. Der Grund für die Beschäftigung
mit Musik ist primär und immer die Musik selbst! Diese führt
ihr eigenes Sachziel in und mit sich selbst.
Dass wir den Musikunterricht in den Schulen nicht für irgendwelche
Transfereffekte missbrauchen dürfen, schließt aber auch
nicht aus, in bildungspolitischen Argumentationen selbstbewusst
auf diese zu verweisen und die öffentliche Musikerziehung aus
dem Odium der Zeitverschwendung zu befreien. Das Fach Mathematik
hat keine bildungspolitischen Legitimationsprobleme, weil es als
Hauptfach etabliert und akzeptiert ist.
Als Wissenschaftler lehne ich Schlagzeilen ab, aber als homo
politicus kann ich mich gelegentlich und begrenzt mit ihnen
arrangieren, weil sie Aufmerksamkeit schaffen und vielleicht der
guten Sache Musik (in den Schulen) dienen. Sie sind
als Mittel der verkürzenden Zuspitzung dann und wann zu rechtfertigen,
wenn sie einen Leseimpuls auslösen, vor allem unter verantwortlichen
Politikern. Keine Frage: Musik macht intelligent ist
sicher eine unzulässige Verallgemeinerung, aber: Kinder
optimal fördern mit Musik (so der Titel des Taschenbuchs),
dazu stehe ich! Wenn wir etwas zu Gunsten der Musik verändern
wollen, müssen wir raus aus dem Zirkel des selbstzufriedenen
oder auch selbstzerstörerischen Entre-nous.
Die bildungspolitische Intention der Studie geht im Übrigen
völlig auf; sie trägt Früchte: Die hessische Kultusministerin
nahm die Kürzung des Faches Musik in der Grundschule nach Kenntnisnahme
der Untersuchungsergebnisse wieder zurück. In Berlin wurden
zwei weitere Grundschulen mit musikbetonten Zügen genehmigt,
deren Beantragung ohne das Forschungsvorhaben den sicheren Archivtod
gestorben wäre. Heute spricht in Berlin (so die Musiklehrerin
Maillard-Städter) niemand mehr von Stundenkürzungen im
Fach Musik. Welch schöne neue Welt, eine Welt mit Musikerziehung
ohne Legitimationszwänge!