[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/04 | Seite 23
50. Jahrgang | April
Noten
Spannendes Unternehmen Erstausgabe
Fortsetzung aus der nmz 3/01, S. 24: zur Gesamtausgabe der Werke
Mendelssohn Bartholdys
In gleicher Weise gewährt eine weitere Neuausgabe Einblick
nicht nur in den Kompositionsprozess und die Entwicklung des aufstrebenden
Genies, sondern eben auch in den Unterricht bei Zelter: das gleichfalls
1822 entstandene Magnificat in D-Dur für Soli, Chor und Orchester,
vorgelegt von Ralf Wehner, der in der Einleitung auf die auffällige
Verwandtschaft mit Carl Philipp Emanuel Bachs Magnificat in der
gleichen Tonart hinweist.
Für mich das fraglos spannendste Unternehmen ist die Erstausgabe
des Doppelkonzerts in d-Moll für Violine und Klavier mit
wahlweise Streichern oder kleinem Orchester, für die
Christoph Hellmundt verantwortlich zeichnet, aus dessen Einleitungstext
wir erfahren: Eine wissenschaftliche Ausgabe der Streicherpartitur,
erarbeitet von Theodora Schuster-Lott und Frieder Zschoch, befand
sich im Rahmen der neuen Werkausgabe für 1966 in Vorbereitung
und war schon gestochen, kam jedoch nicht zur Veröffentlichung.
Nur eine Ausgabe für Violine und Klavier ( ) erschien
damals im Deutschen Verlag für Musik, und Aufführungsmaterial
der Fassung mit Streichorchester ist seitdem im selben Verlag leihweise
erhältlich. Freilich existiert alternativ auch eine käufliche
Taschenausgabe der Streicherpartitur, vor deren Erwerb nur gewarnt
werden kann: die 1960 im Astoria-Verlag erschienene Bearbeitung
von Clemens Schmalstich, deren aberwitzige Eingriffe (massive Kürzungen,
willkürliche Veränderungen) einst nur deswegen geduldet
wurden, weil die Öffentlichkeit das 1957 erstmals wieder aufgeführte
Werk nicht genauer kannte. Die ad libitum hinzugefügte Bläser-
und Paukenpartitur (dies ein Parallelfall zur 8. Streichersymphonie)
liegt heute in England. Von ihrer Existenz erfuhr man erst 1983
aus dem Catalogue of the Mendelssohn Papers in the Bodleian
Library, Oxford.
Eine Gesamtpartitur mit Streicher- und Bläsersatz ist nicht
überliefert und hat wohl nie existiert. Die Fassung mit Bläsern
ist durch den koloristischen Zugewinn wenigstens ebenso reizvoll
wie die Streicherfassung, und es ist meines Erachtens einzig dem
Vermögen der Ausführenden anheim gestellt, ob dieses Konzert
als zu lang geraten und damit redselig erlebt wird oder der erfinderische
Überschwang, die jugendlich-musikantische Freude bruchlos durchträgt.
Es ist ein wunderbares Werk, das über den Spaß hinaus
Erfüllung bescheren kann und es ist fast konkurrenzlos für
eine ebenso selten bediente wie häufig erwünschte Besetzung
geschrieben. Dieser Erstausgabe der Originalgestalt ist zudem noch
eine Alternativkadenz zum ersten Satz beigegeben, die zwar später
entstanden ist, von der man jedoch nicht gesichert behaupten kann,
Mendelssohn habe sie der ursprünglichen Fassung letztgültig
vorgezogen. Welche Kadenz erklingt, bleibt also dem Gusto der Interpreten
überlassen. Jetzt steht zu hoffen, dass, indem endlich allgemein
zugänglich eine fundierte und texttreue Ausgabe vorliegt, das
Doppelkonzert die ihm seit jeher gebührende Stellung im Konzertleben
erobern kann.
Es sollen übrigens auch sämtliche in der DDR-Gesamtausgabe
veröffentlichten Werke nochmals einer kritischen Neuedition
nach den nunmehr gültigen Richtlinien unterzogen werden, was
freilich in der Regel erst mal warten kann. Die Streichersymphonien
und das frühe Violinkonzert in d-Moll zum Beispiel sind für
jedermann in für den Konzertgebrauch ausreichenden, praktischen
Ausgaben käuflich lieferbar.
Zunächst geht es in der Gesamtausgabe weiter mit der in Kürze
erscheinenden Ersten Symphonie op. 11, dem Klaviersextett und der
Fassung des Sommernachtstraums für 2 Klaviere, dann sind Gloria,
Orgelmusik, das 2. Klavierkonzert in d-Moll, das Streichoktett und
die Schottische Symphonie vorgesehen. Angesichts der maßstabsetzenden
Sommernachtstraum-Partitur-Neuausgabe wie auch der drei vorbildlich
edierten Frühwerke sind die Erwartungen ganz hoch angesiedelt.
So hoch, wie man das zu gerne auch von anderen Urtext-Editionen
fordern möchte.