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nmz-archiv
nmz 2001/04 | Seite 39
50. Jahrgang | April
Jazz, Rock, Pop
Dreistimmig muss es sein
Heilige, Ikonen, Kirchen, Feiern und Gesang in Georgien
Ab 1801 griff das Zarenreich nach Georgien, dessen Fruchtbarkeit
und Sommertemperatur verlockend erschienen. Um den Widerstand der
Bevölkerung zu brechen, wurde die Kolonie in Grusinien
umgetauft, außerdem schaff-te man 1811 die Autokephalie (Eigenständigkeit)
der georgisch-orthodoxen Kirche ab, indem man sie der russisch-orthodoxen
zuschlug und die farbenfrohen Fresken in Tausenden von Kirchen weiß
übertünchte.
Die Anchiskhati-Sänger
in ihrer Kirche in Tbilisi.
Foto: Ulrichs
Auf der Strecke blieb dabei auch die georgische Liturgie, ein musikalisches
Ereignis, das weltweit seinesgleichen sucht. Als der liebe Gott
die Länder verteilte, fehlten der Legende nach die Georgier,
weil sie gerade feierten, also sangen. Aber weil sie so schön
sangen, bekamen sie schließlich doch noch ihr bergiges Land
zwischen dem Kleinen und dem Großen Kaukasus. Im Jahre 337
wurde das Christentum Staatsreligion, etwa 30 Jahre später
als Armenien, was auch heute noch für gewisse Komplexe sorgt.
Heilige, Ikonen, Kirchen, Kathedralen und Legenden geben einen Rest
von Stolz in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit und völliger
De-industrialisierung. So ist samstags zur 17-Uhr-Vesper und sonntags
um 9 Uhr die kleine Anchiskhati-Kirche am Anfang von Tbilisis Altstadt
mit Grundmauern aus dem 6. Jahrhundert hoffnungslos überfüllt.
Denn diese Basilika ist die bisher einzige Kirche Georgiens, in
der wieder regelmäßig die georgische Liturgie gesungen
wird nicht unter zweieinhalb Stunden, auch für Georgier
ein umwerfendes Erlebnis. Die zehn jungen Männer des Anchiskhati-Chores,
sind Berufsmusiker und verdienen sich umschichtig ein Zubrot durch
das Singen der dreistimmigen Antiphone im Wechsel mit den Geistlichen.
Dass sie dabei Jeans tragen, hemdsärmelig singen, tut der Inbrunst
keinen Abbruch. Die zahlreichen georgischen Regionen sind in vieler
Hinsicht sehr unterschiedlich; von Flora und Fauna über Kochkunst
bis zur Folklore herrscht eine große Vielfalt. Aber dreistimmig
müssen die Gesänge überall sein, wobei die georgische
Polyphonie zu großen Teilen improvisiert gehört.
Diese Dreistimmigkeit mag von den orthodoxen Hymnen stammen, die
will man einigen georgischen Wissenschaftlern glauben
aus dem 8. Jahrhundert stammen und damit die europäische Renaissance
bei weitem übertreffen. Ernsthafte Belege indes gibt es erst
seit ungefähr 1200, auch schon ein frühes Datum für
polyphone Musik.
Es würde zu weit führen, die abenteuerliche Geschichte
der Überlieferung darzustellen. Malkhaz Erkvanidze, Ethnomusikologe
und Leiter des Anchiskhati-Chors, hat 1999 eine Sammlung mit 186
Gesängen veröffentlicht, die entfernt an eine Kreuzung
von Gregorianik mit alten Codices etwa aus Limoges erinnern. Eine
umfangreichere Neuauflage mit CD ist in Vorbereitung. Was die Noten
indes nicht wiedergeben, hört man auf der faszinierenden CD
Sacred Music from the Middles Ages (1998), nämlich
die Kraft der Mikrointervalle. Natürlich singen die Anchiskhati-Männer
auch Folklore, so auf Georgian folk songs (2000), wie
es sich gehört, nach Regionen sortiert. Bezugsmöglichkeiten
erfahren Sie unter der E-Mail-Adresse ardzani@ip.osgf.ge.
Mitte Mai kommt der gesamte Chor erstmals nach Deutschland. Folgende
Konzerttermine sind vorgesehen: 22.5. Bad Doberan, 26.5. Potsdam,
27.5., 1. und 2.6. Hamburg, 3. und 4.6. Alsfeld, 5.6. Göttingen,
8.6. Berlin. Details erhalten Sie unter der E-Mail-Adresse marika@lile.de.
Zu den populärsten Chören gehört das 13-köpfige
Ensemble Georgika (makho_@hotmail.
com), zu dem sich gelegentlich noch drei Instrumentalisten gesellen.
Auf der dritten CD (Face Music, Dorfstr. 29/1, CH-8800 Thalwil-Zürich)
seien sie dem Ideal der improvisierten Dreistimmigkeit am nächsten
gekommen, sagen die Brüder Ushveridze, die neben dem Broterwerb
noch Kinderchöre an Volksmusikschulen leiten. Drei weitere
folkloristische CDs seien noch genannt: Soinari (Wergo
SM 1510-2) bietet neben der namensgebenden Gruppe mit interessantem
Instrumentarium die sechs singenden Frauen von Mzetamze
und den Männerchor Mtiebi. Aus dem WDR-Archiv stammen
die Aufnahmen auf Georgia (WorldNetwork 52.985/Zweitausendeins)
mit dem Rustavi-Chor und dem Duduki-Trio. Das Ensemble Riho
unterhält auf der CD Géorgie/Svanétie
mit Gesängen aus Svanetien im Nordwesten (Inédit/PMS
W 260090).