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nmz-archiv
nmz 2001/04 | Seite 23
50. Jahrgang | April
Rezensionen
Reizvoll verquere Archaik
Deutsche Musik des 17. Jahrhunderts
Das abgelaufene Bach-Jahr 2000 hat zwar den Plattenmarkt wie selten
ein Jubiläumsjahr zuvor überschwemmt. Aber was da vollmundig
in vollständige und nicht so vollständige Editionen abgefüllt
wurde, waren meist Wiederveröffentlichungen. Spektakuläre
Neuaufnahmen hat es kaum gegeben. Gardiners Kantaten-Tour verlief
diskografisch enttäuschend. Ton Koopman und Masaako Suziki
ziehen mit der Zähigkeit von Langstreckenläufern ihre
Runden der Kantatengesamtaufnahme, mal hat der eine, mal der andere
interpretationsmäßig die Nase vorn. Am überraschendsten
und spektaku-lärsten war für mich die Wiederkehr des Steinway:
Murray Perahias Goldberg-Variationen und Angela Hewitts
Gesamteinspielung des Wohltemperierten Klaviers lassen
die Vorurteile selbst des hartnäckigsten Cembalo-Fundamentalisten
dahinschwinden.
Das Kings Consort belegt
eindrucksvoll, wie aufregend die Kompositionen Sebastian Knüpfers
heute noch sein können. Foto: Jim Four
Die eigentlichen diskografischen Entdeckungen im Bereich der alten
Musik fanden im Jahr 2000 auf einem anderen Terrain statt. Es scheint,
als hätten sich die Interpreten verschworen, den dunklen Kontinent
des 17. Jahrhunderts aufzuhellen, der selbst von den Größen
Monteverdi und Schütz kaum erleuchtet wird.
Während sich die Musik des Hochbarock längst die Konzertsäle
und Kirchen erobert hat, begegnet man der Musik des Frühbarock
außerhalb von Spezialistenzirkeln kaum. Dies ist die Chance
der Tonkonserve CD und sie hat sie weidlich genutzt. Plötzlich
hört man mit eigenen Ohren, dass Bachs Vorgänger nicht
die trüben Funzeln waren, als die sie uns in der älteren
Bach-Literatur oft entgegentreten. Allzu leicht sind wir ja geneigt,
auch die Musik einem geradlinigen Fortschrittsdenken zu unterwerfen,
mit dem sie nichts zu tun hat.
Fünf CDs gewiß willkürlich, aber nicht untypisch
ausgewählt stellen unter Beweis, dass auch abseits der
musikalischen Zentren und von Namen, denen man bisher höchstens
in Lexika begegnete, hörenswerte, ja oft großartige Musik
geschrieben wurde. Christoph Demantius (15671643) hat fast
sein gesamtes Leben als Kantor im sächsischen Freiberg verbracht.
Der neue Stil scheint an dem mit Monteverdi Gleichaltrigen vorübergegangen
zu sein. Er hielt am alten A-cappella-Stil fest, verknüpfte
ihn aber mit einer selbsterfundenen Generalbasstechnik. Erik van
Nevel und sein Huelgas-Ensemble haben Beispiele dieser hybriden
Musik aufgenommen (harmonia mundi france 901705), deren verquere
Archaik von großem Reiz ist.
Eine Generation jünger als Demantius war der früh verstorbene,
in Dresden wirkende Schütz-Schüler Caspar Kittel (16031639).
Seine 1638 erschienene Sammlung Arien und Kantaten ist
das erste Beispiel der neuen italienischen weltlichen Kantate nördlich
der Alpen. René Jacobs hat diese süffige, teils virtuos
unterhaltsame, teils melancholisch tief schürfende Musik wiederentdeckt
und eine Auswahl daraus eingespielt, die kaum Wünsche offen
lässt (harmonia mundi france 005247).
Dem konzertierenden italienischen Vokalstil verpflichtet sind auch
die geistlichen Kantaten Philipp Friedrich Boeddeckers (16071683),
der seit 1652 als Stiftorganist in Stuttgart wirkte. Der Druck seiner
Sacra Partitura (1651) enthält neben eigenen Kompositionen
Werke Gasparo Casatis und Monteverdis sowie zwei hoch virtuose Sonaten
für Violine beziehungsweise Fagott. Wenn die Musik gegenüber
Kittel abzufallen scheint, so liegt der Grund weniger im bescheideneren
Zuschnitt der Werke als in der hausbackenen Wiedergabe durch das
Stuttgarter Lukas-Barockensemble, deren Sopransolistinnen den virtuosen
Ansprüchen nicht ganz gewachsen sind (Cornetto COR 10005
Vertrieb: Musikwelt).
Von anderem Kaliber sind die inspirierten, ausdrucksvollen Kantaten
von Sebastian Knüpfer (16331676), einem der Amtsvorgänger
Bachs als Leipziger Thomaskantor. Hier lernen wir Kompositionen
von strenger Monumentalität und verbaler Feinzeichnung kennen,
die zeigen welche vielfältigen Facetten das Vokalkonzert unter
den Händen eines erfinderischen, fantasievollen Komponisten
annehmen konnte.
Die Aufnahme mit dem englischen Kings Consort (Hyperion CDA
67160) ist die zweite Folge einer Bachs Vorgängern und Zeitgenossen
gewidmeten Reihe und in vokaler wie deklamatorischer Hinsicht mustergültig.
Das kann man leider nicht sagen von der neuen CD des Collegium Vocale
Gent unter Philippe Herreweghe (harmonia mundi france 901703). Mit
Kantaten von Franz Tunder, Johann Kuhnau, Nicolaus Bruhns und Christoph
Graupner spannt sie den Bogen von der Mitte des 17. bis zum Beginn
des 18. Jahrhunderts und macht auf kleinem Raum die Vielfalt wie
die Entwicklung der deutschen Kirchenkantate deutlich. Leider sind
die Einspielungen mit Ausnahme der meditativen Choralkantate
Wend ab deinen Zorn von Tunder interpretatorisch
nicht sehr überzeugend, ja eher lustlos ausgefallen. Dennoch
möchte man Musiker, Plattenfirmen und Hörer ermuntern,
weitere Entdeckungsreisen im schier unübersehbaren Repertoire
des deutschen Frühbarock zu unternehmen.