nmz 2001/05 | Seite 9
50. Jahrgang | Mai
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Wiepersdorf
Nanu, das ist doch West-Material, sagt die nette Büroleiterin
leicht irritiert, als das braune Tesaband, mit dem sie mir das Paket
zukleben will, immer wieder reißt. Das Wort steht nicht im
Duden, scheint aber in die Umgangssprache eingegangen zu sein, zumindest
da, wo nicht Westen ist, also in den so genannten neuen Bundesländern.
Wir sind in Wiepersdorf, einem verpennten Bauerndorf sechzig Kilometer
südlich von Berlin im märkischen Sand mit seinen Eichen-
und Föhrenwäldern. Hier scheint die Zeit still gestanden
zu sein. In der Dorfmitte steht die alte Schmiede aus vorsozialistischen
Zeiten, hinter jedem Hoftor bellt ein Hund, und dem Fremden wird
mit teilnahmsloser Miene nachgeblickt. Vor dem Haus steht der deutsche
Einheitsgartenzwerg, daneben der Opel und im rückwärtigen
Hof zur offenen Wiese hin der Trabbi. Auf dem Truppenübungsplatz
hinter dem Wald ratterten vor zwölf Jahren noch die sowjetischen
Panzer.
Hier gibt es auch das Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf mit
der netten Büroleiterin, ein Herrensitz mit Park aus dem späten
18. Jahrhundert, wo später Achim und Bettine von Arnim wohnten
und heute ihr Grab zu besichtigen ist. Zu DDR-Zeiten, so munkelt
man, sollen bis zu sechzig Angestellte, die meisten von ihnen Dorfbewohner,
die illustren Gäste des damaligen Künstlerheims
umsorgt und bedient haben, beim abendlichen Servieren sogar in Schwarz.
Professor Masur war auch da, und Sarah Kirsch, und übers Wochenende
kamen manchmal Leute aus dem Zentralkomitee, sagt eine resolute
Frau aus dem Dorf, die nach über zwanzig Jahren Dienst an der
Kunst nun in Pension geht. Das waren noch andere Zeiten, fügt
sie bei, da gab es noch eine richtige Gemeinschaft, heute kommen
ja nur noch diese armen Schlucker. Und dann Frau Schmidt, die mit
ihrer systemübergreifenden Herzlichkeit für Jahrzehnte
die Seele des Hauses war: Sie schluckt leer, als sie erzählt,
dass sie nun auch gehen muss und nur noch aushilfsweise das kleine
Museum, in dem die Familiengeschichte der Arnims dokumentiert ist,
betreuen darf. Der Kulturbruch macht zu schaffen.
Aus dem Künstlerheim für die DDR-Elite ist ein von den
fünf neuen Bundesländern finanziertes Kulturzentrum geworden,
wo nun ein markant verringertes Personal ein markant erhöhtes
Arbeitspensum bewältigt. In den Ateliers, Studios und Appartements
können zwei Dutzend Stipendiaten aus allen Kunstbereichen bis
zu fünf Monate lang arbeiten. Die armen Schlucker aus Dresden
und Potsdam, Moskau und Arizona fühlen sich in der brandenburgischen
Provinz wohl. Die italienische Schriftstellerin erzählt, sie
sei mit ihrem Kollegen aus Zimbabwe und einigen anderen am Karnevalssamstag
in der einzigen Dorfkneipe gewesen, wo gefeiert wurde. Eine Kapelle
spielte, die Dorfbewohner, darunter auch Angestellte des Künstlerhauses,
trugen Trachten, saßen und tanzten nach strenger, althergebrachter
Regel. Preußen grüßt Bayern. Die ausländischen
Exoten wurden freundlich geduldet.
Der nächste größere Ort ist das zwanzig Kilometer
entfernte Jüterbog, preußisches Garnisonsstädtchen
und Geburtsort von Wilhelm Kempff, dem Pianisten mit dem sensiblen
Charme, wie Joachim Kaiser sagt. Die militaristische Vergangenheit
des Orts ist noch an den Straßenschildern im Zentrum ablesbar:
Pferdestraße, Artilleriestraße, Schützenstraße.
Im alten Stadtbild haben sich die Billigladenketten aus dem Westen
ausgebreitet und bieten unter den vertrauten Reklamen und Firmenlogos
ihren Plastikschrott an. Die alte Soldatengemütlichkeit, die
offenbar in der DDR noch mühelos überwintern konnte, wird
nun vom kapitalistischen Fortschritt aufgerollt.
Die Tradition lebt indes in den Köpfen fort. Die Touristeninformation
im schön renovierten Rathaus aus dem 14. Jahrhundert verkauft
Ansichtskarten mit Motiven aus der guten alten Zeit: Grüße
vom Dennewitzer Schlachtfeld, Feldmanöver mit rauchenden Kanonen,
stolze Dragoner, abgezirkelte Soldatenformationen. Als besondere
Spezialität taucht mehrfach das Foto einer Holztafel auf, die
frisch renoviert noch immer am Jüterboger Stadttor angebracht
ist. Darauf ist der Spruch eingekerbt: Wer seinen Kindern
gibt all sein Brot und leidet im Alter selber Not, den schlage man
mit der Keule tot. Die Keule hängt an einer Kette gleich
daneben. Der irritierte Ortsfremde wird von der Verkäuferin
freundlich aufgeklärt, dass sich dieser Spruch auf einen Kaufmann
aus einem früheren Jahrhundert beziehe, der zu Lebzeiten sein
Erbe an seine Kinder vermacht habe und dann im Alter leider verarmt
sei, weil sie ihn nicht unterstützen wollten. Aha, denkt er
sich, das sind also die preußischen Tugenden! Protestantischer
Fleiß, vorsichtiger Umgang mit dem Geld, strikte Beachtung
der gesellschaftlichen Normen, und wer gegen die öffentliche
Moral verstößt oder sonstwie auffällig ist, kriegt
eins mit der Keule übergebraten. Heute wird ständig von
den fehlenden gesellschaftlichen Vorbildern für die ostdeutsche
Jugend geredet. Vielleicht ist das ja eines? Immerhin hat die als
Handlungsaufforderung öffentlich präsentierte Keule eine
fatale Ähnlichkeit mit einem Baseballschläger...
Bei so viel systemüberdauernder deutscher Gemütlichkeit
kommt einem unwillkürlich das melancholische Gedicht Heimkehr
des deutschen Dichters Heinrich Heine in den Sinn, das Hans Werner
Henze in seinen Voices mit trostlosen Bläserklängen
so treffend eingefärbt hat. Darin geht ein rot geröckter
Bursche vor seinem Schilderhäuschen am alten grauen Turme auf
und ab: Er spielt mit seiner Flinte, die funkelt im Sonnenrot,
er präsentiert und schultert ich wollt, er schösse
mich tot.