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nmz-archiv
nmz 2001/05 | Seite 41
50. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Musik im Dickicht der Städte
Das Kurt Weill Fest Dessau schärft sein Profil mit aktuellen
Interpretationen
Die großen Jubelfeiern zum 100. Geburtstag und 50. Todestag
bemühten sich um ein umfassendes Bild Kurt Weills, weg vom
nur durch die Zusammenarbeit mit Bert Brecht definierten Schrägstrich-Komponisten,
konzentriert auf die Erfassung der jeweiligen Eigenarten in der
deutschen, französischen und amerikanischen
Phase.
Inzwischen ist in Dessau wieder der Alltag eingekehrt, das Festival
auf seine ursprüngliche Dauer von zehn Tagen zurückgeschrumpft,
auch der Etat wieder bei der alten bescheidenen Größenordnung
angelangt. Doch vom einmal erreichten Niveau hat man sich nicht
mehr zurückdrängen lassen. Im Gegenteil, durch die Reduktion
erscheint das gesamte Profil geschärft, durch bestimmte Schwerpunkte
klarer akzentuiert. Die sollen jetzt vor allem beim unbekannten
amerikanischen Weill liegen, den anspruchsvollen Musicals bis hin
zur Broadway-Oper Street Scene, andererseits auch auf
neuen Lesarten des fast schon bis zum Überdruss Bekannten.
Ungeahnte Freiheiten wurden dabei möglich, entgegen den sonstigen
strengen Auflagen der Weill-Foundation for music, bis hin zu Eigenproduktionen.
Beim Geburtstagsspektakel im Dessauer Bahnhof, zu dem die Deutsche
Bahn den Sekt ausschenkte, erfuhren die Songs aus Dreigroschenoper
und Mahagonny höchst eigenwillige Umformungen durch
die Performerin Laura Kibel: Ihr Theater der Füße
lässt alle möglichen Körperteile, mit Brillen und
Perücken kostümierte Kniescheiben etwa, dazu Hand- und
Stabpuppen, als Seeräuberjenny oder Mackie Messer auftreten;
der Haifisch hat gewaltige Zähne; ein riesiges Krokodil singt
Zigarren qualmend und Whiskey trinkend den Alabama-Song,
die Soldaten fallen krachend von den Kanonen skurrile Poesie,
die ins Schwarze dieses Humors trifft. Dominique Horwitz nimmt seine
Dreigroschen-Hits ernster; im neuesten Arrangement
von Jan-Christof Scheibe entfaltet die seit 1993 erfolgreiche Produktion
Punk-Aggressivität, welche eindimensional wirkt und trotzdem
manchmal überraschende atmosphärische Momente hervorbringt.
Bei Stefanie Wüsts reich nuanciertem Vortrag der frühen
Lieder allerdings, die den Weg vom Koloraturgesang zum Song finden
(während der Präsentation der neu herausgegebenen, äußerst
aufschlussreichen Briefe an die Familie), zeigte sich
einmal mehr die Überzeugungskraft der Originalfassungen.
Weill wurde nicht müde, für ein aktuelles und realistisches
Musiktheater einzutreten; das Musikbedürfnis breiterer
Bevölkerungsschichten zu befriedigen, ohne ... künstlerische
Substanz aufzugeben, war sein wichtigstes Anliegen. Die Rockoper
Rote Socken?, von Bodo Kommnick für die Anhaltische
Musiktheaterwerkstatt für Kinder und Jugendliche geschaffen,
kann diesen Kunstanspruch gewiss nicht erheben. Die Geschichte von
Wendelin, der sich weder im real existierenden
Sozialismus noch im Goldenen Westen zu Hause fühlt,
ist zur Freude des Publikums von hohem Wiedererkennungswert und
setzt zur Charakterisierung einen Mix des täglich Gehörten
Rock Pop, Techno ein. Das ist nicht neu, doch mit
Herz und Verstand gemacht, bewahrt auch bei gelegentlicher Sentimentalität
einen Funken Distanz und gibt jungen Talenten reichlich Gelegenheit
zu heißem Gesang und Tanz, wie wohl der Hauptwert des ganzen
Unternehmens in der kreativen Verarbeitung der eigenen Realität
zu sehen wäre, unermesslich wichtig angesichts unserer verdummenden
Unterhaltungskultur. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Aufführung
der problematischen Suite Street Scenes zu akzeptieren
die Fassung der Foundation-Präsidenten Lys Symonette
und Kim Kowalke unterstreicht einen gewissen Puccini-Touch
des immerhin 1946 entstandenen Werkes, dem selbst die flüssig-transparente
Wiedergabe durch James Holmes nicht ganz abhelfen konnte. Aber die
kleinen Leute, die hier endlich einmal Thema ohne den
sonst üblichen Soap-Nachgeschmack sind, haben wohl
andere Vorstellungen von Glück und auch von Ästhetik als
überheblich nörgelnde Journalisten. Verlogen ist Weill
jedenfalls nie, wenn auch Street Scenes durch Distanzlosigkeit
welche die amerikanischen Sänger noch mit Vorliebe pathetisch
verstärkten als Kunstwerk fragwürdig bleibt. Vielleicht
aber auch nur ein Kulturschock. Wie man den amerikanischen
Weill für unseren Geschmack aufbereiten kann, führte
der von Stanley Walden geleitete Studiengang Musical der Berliner
Hochschule der Künste mit Love Life einfach hinreißend
vor. Mit ein paar beherzten Strichen und Umstellungen versetzt Rüdiger
Behring die Handlung Wirren eines Ehealltags in die
virtuelle Welt einer Gameshow, die hochmotivierten Darsteller
herausragend Antje Rietz und Detlef Leistenschneider absolvieren
die musikalische Paartherapie unter der Regie von Peter
Kock mit der wissenden Ironie von heute, ohne zu diskriminieren.
Ohne das eigentliche Highlight des Dessauer Weill-Festes wäre
das alles trotzdem etwas unbefriedigend geblieben, eben Unterhaltungskunst
auf sehr hohem Niveau. Den Sieben Todsünden, dieser
etwas verunglückten Zwittergeburt aus Songspiel und Ballett
aus dem ersten Exiljahr in Paris 1933, mit einer männlichen
Doppelbesetzung zu Leibe rücken zu wollen, ist schon eine etwas
ausgefallene Idee. Ausgefallener ist nur noch, dass sie funktioniert.
In Dietmar Seyferts Choreografie und Regie wird die Kernaussage
des Stückes, die gewöhnliche Schizophrenie unseres Alltags
als Aufspaltung von Persönlichkeiten in eine vernünftige
und eine gefühlvolle Seite, endlich einmal deutlich.
Sopranist Jörg Waschinski betont mit schneidendem Timbre und
unbewegter Ausstrahlung die Härte der praktischen
Anna I, kontrastiert dies mit melancholisch-weichen,
quasi kommentierenden Passionstönen. Jürgen
Bruns als Leiter der Kammersymphonie Berlin unterstreicht
das mit angemessen extremen, die Musik beim Wort nehmenden Tempi.
Gregor Seyfert wiederum, als zur Prostitution gezwungene Anna
II, tanzt um sein Leben, legt Verletzlichkeit und atemlose
Verausgabung in jede Bewegung. Dass diese männliche Besetzung
niemals fragwürdig oder gar peinlich wird, ist vor allem dem
sachlichen, über Geschlechterklischees stehenden Ernst der
Interpretation zu verdanken; diese Art von Verfremdung
lenkt erst die Aufmerksamkeit auf den Inhalt, wo weibliche Stars
sich mit der Verpflichtung zum Schön-Sein eher
im Weg stehen.
Eine Aktualisierung findet da statt, die sich in einer getanzten,
von Friedrich Schenker musikalisierten Version von Brechts Lesebuch
für Städtebewohner fortsetzt: in Kampfhandlungen
der jungen Schauspieler Julia Jentsch, Victor Calero und Boris Wagner
umgesetzte Texte, die mit illusionsloser Schärfe nicht minder
genau unsere Wirklichkeit beschreiben als die von 1930.