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nmz-archiv
nmz 2001/05 | Seite 36
50. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Zum Raum wird das Orchester
Eine Musik-der-Zeit-Veranstaltung des WDR
Das Orchester ein unendliches Thema. Es beginnt in uralten
Zeiten außerhalb Europas, gipfelnd in den chorischen Hundertschaften
der Tang-Dynastie (618907), wo in einem der Hoforchester allein
200 Mundorgeln mitwirkten. In der Antike bezeichnete der Begriff
Orchestra zunächst den Tanzplatz für
lyrische Choraufführungen, dann den Raum zwischen Spielhaus
und Zuschauern, später ganz allgemein die Bühne. Die räumliche
Definition des Orchestra galt auch noch in der Barockzeit:
Es war der Platz, an dem die Musiker sich versammelten. Erst um
1700 finden sich in Frankreich Belege dafür, dass unter Orchestra
die Vereinigung der bis dato individuell agierenden Instrumentalisten
zu einem Instrumentalkorpus verstanden wurde. Wenn in
der Neuzeit Komponisten wie Britten oder Milhaud Werke für
eine bestimmte Anzahl von Instrumentalisten schrieben und statt
der Bezeichnung Orchester oder auch Kammerorchester
nur die Zahl der mitwirkenden Musiker angaben, so war das ein bewusster
Rückgriff auf alte Musizierpraktiken der concerti di
varii strumenti musicali, wie sie ein Peri, Caccini oder Gabrieli
pflegten.
Von einem modernen Orchester kann erst gesprochen werden, seit
sich die einzelnen Instrumente zu einem Gesamtklang vereinigten,
als sich der Gesamtklang gleichsam kollektiv definierte. Die Totalität
des Orchesters realisierte die dafür entstandenen Kompositionen,
der individuelle Musiker verschwand, zumindest für die Aufführungszeit,
in der musizierenden Gemeinschaft. Aus dieser Kollektivierung,
der technischen Voraussetzung für die Darstellung
der großen Sinfonik, wie man sie bis heute versteht, erwuchsen
im Laufe der Zeit, vor allem aber in den letzten Jahrzehnten wachsende
Probleme. Der für die Aufführung großer Sinfonik
durch große Orchester immer unentbehrlicher gewordene Dirigent
schob sich als Interpret umso stärker in den Vordergrund
und schließlich ins Zentrum: Nur er vermochte es, die Genialität
eines Komponisten zur Wirkung zu bringen. Nicht selten avancierte
er dabei zum Despoten, der die Musiker zu reinen Erfüllungsgehilfen
degradierte, die gleichwohl, jeder einzelne, das Herzblut zu opfern
hatten, damit der Pultstar den kollektiven Glanz zu entfalten vermochte.
Reinbert de Leeuw spielt und
dirigiert Ustwolskaja.
Foto: Charlotte Oswald
Gegen diesen Zustand, dessen zeremonielle Erstarrung parallel zur
Erstarrung des klassisch-romantischen Repertoires durch unendliche
Repetitionen verlief, revoltierten in den unruhigen späten
60er- und den 70er- Jahren junge Musiker, die sich nicht länger
von Orchesterdompteuren und träge gewordenen Musiziergewohnheiten
die Spielregeln vorschreiben lassen wollten. Die folgenden Entwicklungen
dürfen als (noch) bekannt vorausgesetzt werden sie sind
in Deutschland mit der Gründung der Jugendorchester, vor allem
des Bundesjugendorchesters und der daraus entwachsenen Jungen Deutschen
Philharmonie, mit der Bildung freier professioneller Ensembles wie
dem Ensemble modern und der Deutschen Kammerphilharmonie verbunden.
Selbstbestimmung, freie Dirigentenwahl, eigenständige Programmplanung
sollten eine neue Lust auf Orchester spielen (Zitat
Karsten Witt, Mitbegründer des Bundesjugendorchesters und der
Jungen Deutschen Philharmonie) entfachen. Das hat inzwischen schöne
Blütenträume wahr werden lassen, natürlich auch einige
zu enthusiastische Erwartungen gedämpft, zum Beispiel die von
der wohl zu hoffnungsfrohen Durchdringung der traditionellen Kulturorchester
mit dem neuen Geist der jungen Nachwuchsmusiker. Inzwischen
scheinen besonders hoch qualifizierte Hochschulabsolventen sogar
das Kollektiv der Berliner Philharmoniker zu meiden, die händeringend
Spitzenmusiker für ihre ersten Pulte suchen. Ist die Lust
auf Orchester spielen womöglich überhaupt erloschen?
Werden junge Musiker wieder zu fröhlichen Concerti-Kameradschaften,
die sich von Fall zu Fall zu gemeinsamem Tun zusammenfinden? Es
gibt zumindest Anzeichen für solche Entwicklungen.
In dieser Situation scheint es angezeigt, in die organisatorischen
und ästhetischen Überlegungen zum Thema Orchester
auch die Erfinder von Musik einzubeziehen. In seiner verdienstvollen
Reihe Musik der Zeit versammelte der Westdeutsche Rundfunk
Köln Komponisten und Orchester in verschiedensten Formationen,
um mit ihnen Erscheinungsformen eines Orchester-Spielens vorzustellen,
das sich vom gängigen Erscheinungsbild eines Orchesterkonzerts
mehr oder weniger konsequent abwendet. Die Programme der vier Konzerte
hatte Harry Vogt, der Leiter der Neue-Musik-Redaktion des Senders,
mit gewohnter Weite der Perspektiven konzipiert.
Grob gerastert betrachtet, lassen sich zwei Wege bezeichnen, die
Komponisten der Gegenwart beschreiten, um das Orchesterspiel neu
zu definieren und strukturieren: Da ist einmal die Re-Individualisierung
des einzelnen Musikers, Versuche, im Kollektiv dem einzelnen Instrumentalisten
wieder zu individueller Darstellung zu verhelfen. Michael Gielen
nannte eine seiner Kompositionen über das Thema
deshalb Mitbestimmungsmodell für Orchestermusiker und
Dirigenten die Musiker konnten in einer offenen Spielform
über den Ablauf der Komposition mitentscheiden. Vinko Globokar,
Hans Zender oder Rolf Gehlhaar entwarfen ähnliche Modelle.
Auch die Quartets I VIII von John Cage, 1976
entstanden, zählen zu den experimentellen Versuchen, den Begriff
Orchester anders zu definieren: in den Quartets
agieren im Orchester jeweils nur vier Spieler, aber die vier Akteure
wechseln von Phase zu Phase, so dass immer neue Klangmischungen
und andere Positionierungen entstehen, je nachdem, wo im Orchester
die jeweils agierenden Musiker sitzen.
Diese räumliche Dimension charakterisiert zugleich den zweiten
Weg der Veränderungen im Orchesterspiel: die Aufteilung und
Aufstellung der orchest-ralen Totalität im Raum,
in die auch von Fall zu Fall das Chorensemble einbezogen ist. Dieses
KlangRaum-Denken, das bevorzugt auf die venezianische
Mehrchörigkeit der Brüder Gabrieli zurückverweist,
beherrscht in der Gegenwart wesentlich das Komponieren eines Stockhausen,
Boulez (Rituel) oder Luigi Nono, und so war es dramaturgisch
richtig, in das Programm der vier Kölner Orchester-Gruppen-Konzerte
mit Nonos No hay caminos, hay que caminar...Andrej Tarkowskij
für Orchester in sieben Chören und John Cages Quartets
zwei signifikante Werke gleichsam als Wegzeichen aufzupflanzen,
um die sich dann die jeweiligen Uraufführungen gruppierten.
An Cages Quartets orientieren sich sowohl Caspar Johannes
Walters Gesang der Töne (aus der Ferne) als auch
Juliane Kleins vertikal: Bei Walter ständig wechselnde
vierstimmige Akkorde in ständig sich ändernden solistischen
Quartettbesetzungen, bei Juliane Klein zwei Dutzend Musiker, mal
als Quintett, als Duo und sechsmal als Trio eingesetzt:
Beide Stücke entwickeln ein spannungsvolles Mit-und Gegeneinander
von fließender Formulierung und gespannter Intervallik,
voll reizvoller harmonischer Wendungen bei Walter, strukturell variabel
und transparent bei Klein. Alle drei Werke wurden kompetent vom
Ensemble Resonanz unter der Dirigentin Sian Edwards erarbeitet.
Nach den Orchester-Kammern von Cage, Walter, Klein
ging es in die Orchester-Räume von Nono, Rebecca
Saunders und Emanuel Nunes. Rebecca Saunders duo four
- two exposures, double concerto für Trompete, Schlagzeug
und Orchester, malt förmlich eine reich facettierte
Klanglandschaft in den Raum, zusammengefügt aus
den Klangaktionen der beiden Solisten und der sie umstellenden Instrumentalisten.
Kräftige Farben, harte, physisch spürbare Attacken, gestische
Direktheit der Musik gehen schließlich in eine traumatische,
fast impressionistisch wirkende Beruhigung der Klänge und Bewegungen
über: Faszinierend und irritierend zugleich.
Faszinierend, irritierend auch Emanuel Nunes Musivus
für Orchester in vier Gruppen. Ständig wiederholte, kurze,
rhythmisch prägnante Klang-Mosaike (Musivus) werden von den
Orchester-Gruppen, die nicht im Raum postiert sind, vielmehr unterteilt
auf dem Podium sitzen, zugleich zu einem scheinbar unendlich fortschreitenden
Klang-Teppich geknüpft und wie Vektoren in der
linearen Algebra gleichsam unsichtbar in den Raum geschickt. Wenn
sich das engagiert agierende WDR-Sinfonie-Orchester Köln unter
Emilio Pomárico noch zwei, drei weitere Proben gegönnt
hätte, wäre der imponierende Eindruck, den Nunes
Musivus hinterließ, sicher noch eindringlicher
ausgefallen.
Dass auch Orgel und Chor orchestrale Operationen auszuführen
vermögen, ist eine musikalische Binsenweisheit. Im dritten
Konzert, bezeichnenderweise Chor, orchestriert betitelt,
demonstrierten das Iannis Xenakis mit seiner Serment-Komposition
für Chor von 1981 auf einen Text des Hippokrates sowie in Uraufführungen
Johannes Schöllhorn, Charlotte Seither und Adriana Hölszky.
Schöllhorn webt in Senza parole für 32-stimmigen
Chor das Stimmengeflecht so raffiniert, dass weder der Eindruck
eines chorischen Unisono noch von solistischen Parallelaktionen
entsteht: wahrhaft ein Chor-Orchester. Hölszkys umspinxt...ein
Rätsel für Raubvögel für 48 Stimmen auf
einen Nietzsche-Text wirkt wie mit Klangmaterialien gemalte Geräuschfelder
(Hölszky), wie sie sonst nur ein Orchester zu erzeugen vermag.
Auch dies hinterließ einen suggestiven Eindruck. Fabelhaft
der WDR-Rundfunkchor unter Thomas Eitler. Charlotte Seithers Himmelsspalt
für Orgel (Bernhard Haas) wirkte im Zusammenhang mit dem Orchester-Thema
vielleicht doch etwas zu eng konzentriert auf spezifisch orgelästhetische
Komponierfragen: Interessant und ein wenig peripher.
Wenn ein Komponist acht Kontrabässe, Schlagzeug und Klavier
oder vier Flöten, vier Fagotte und Klavier zusammenstellt,
wird man in der Regel nicht von einem Orchester sprechen. Wenn der
Komponist aber Galina Ustwolskaja heißt, dann verändern
sich schlagartig die Perspektiven. So ergab sich der Sinn, Ustwolskajas
Komposition I III in die Orchhester-Gruppen
zu integrieren, quasi von allein. Reinbert de Leeuw und das von
ihm geführte Schönberg Ensemble Amsterdam entfalteten
in den Kompositionen über die ungewöhnlichen instrumentalen
Besetzungen hinaus die in die Werke einkomponierten symphonischen
Dimensionen, deren Ausdrucksgewalt, Beredtheit wie weit gespannte
Gestik. Orchestermusik ohne jeden Vergleich. Ein eratischer Block
in einer Musiklandschaft, in der nur ein einziger Mensch lebt.