[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/05 | Seite 39
50. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Wo sich Tell und Rihm die Hände reichen
Das Luzerner Osterfestival zwischen Tradition und Aufbruch
Wilhelm Tell ist nicht weit und Richard Wagner auch nicht, der
unweit von Luzern in Tribschen residierte. Daraus hat die Stadt,
für die der Fremdenverkehr bereits seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts eine große Bedeutung besitzt, immer wieder Kapital
geschlagen. Unweit am Vierwaldstätter See befindet sich, durch
einen steilen Fußmarsch erreichbar, die Tell-Kapelle und findet
sich auch das Richard-Wagner-Museum mit seiner reizvollen Instrumentensammlung.
Wer von der Natur so reichhaltig belohnt wurde, wie die größte
Stadt der Zentralschweiz, die in jeder schweizerischen Schokoladenwerbung
Platz finden könnte, hat es eigentlich nicht nötig, risikoreiches
Neuland zu betreten.
Passionskomponist Rihm. Foto:
Charlotte Oswald
Vielleicht gehört es aber gerade zum Erfolgsgeheimnis dieser
von den Intellektuellen des Auslands oftmals so belächelten
Schweiz, dass sie und ihre Einwohner sich eben gerade nicht so verhalten,
wie man es von ihnen erwartet. Da existieren in Luzern seit über
sechzig Jahren Musikfestwochen von Toscanini aus der Taufe
gehoben, etablierten sie sich bald als Zufluchtsort vieler vom Faschismus
vertriebener Künstler doch dies ist den Verantwortlichen
nicht genug. 1988 werden Osterfestspiele aus der Taufe gehoben und
zehn Jahre später folgt das Lucerne Piano Festival. Der Intendant
Michael Haefliger legt Wert auf inhaltlichen Tiefgang der Programmstrukturen,
erarbeitet thematische Leitfäden und sichert der zeitgenössischen
Moderne einen festen Platz im Festivalablauf.
Der Erfolg auf künstlerischem und finanziellem Parkett gibt
ihm Recht. Die mit eineinhalb Millionen Franken komfortabel ausgestatteten
Osterfestspiele erwirtschaften durch den Kartenverkauf sechzig Prozent
der Kosten. Lediglich drei Prozent übernehmen staatliche Stellen,
der Rest entfällt auf Sponsorengelder.
Was liegt in der Zeit vor Ostern näher, als die großen
Passionswerke vor ergriffenem Publikum in Szene zu setzen. So geschehen
im zweiten Chorkonzert bei der Aufführung der Bachschen
Matthäuspassion mit dem Orchestra of the Age of Enlightment
unter Roger Norrington in der luzerner Jesuitenkirche. Freilich
eingerahmt von zwei mehr als ambitionierten Vorhaben, die Bach und
den österlichen Bibeltext mit der Gegenwart konfrontieren.
Am Vorabend setzt Peter Sellars zwei Kantaten des großen Leipziger
Meisters (Mein Herze schwimmt im Blut BWV 199 und Ich
habe genug BWV 82) in Szene; einen Tag später erleben
Deus Passus, Passions- Stücke nach Lukas, von Wolfgang
Rihm ihre Schweizer Erstaufführung.
Die Gächinger Kantorei und das Bach-Collegium Stuttgart unter
Helmuth Rilling haben dieses Werk bereits bei der Uraufführung
vor einem Jahr in Stuttgart realisiert, und man spürt bei der
makellosen Wiedergabe im Luzerner Konzertsaal, dass der Dirigent
und die mustergültig agierenden Solisten, allen voran Juliane
Banse (Sopran), Ruth Sandhoff (Mezzosopran), Annette Markert (Alt)
und Thomas Cooley (Tenor), die Herausforderungen der Rihmschen
Musiksprache souverän verinnerlicht haben. Dieses Werk des
fast fünfzigjährigen Komponisten hat sich wie kein zweites
seines uvres der Tradition in doppelter Hinsicht gestellt.
Wer sich nach Bach mit den Texten der biblischen Passionserzählungen
beschäftigt, steht mehr als jeder andere im vergleichenden
Beurteilungswettbewerb. Mit Deus Passus gelingt es Rihm,
die im Leiden Chrtisti exemplarisch hervorgehobene Botschaft des
Christentums so neu zu interpretieren, dass die Kraft seiner Musik
eine neue Qualität der Verinnerlichung leistet, die den Zuhörer
zum aktiven Subjekt des Erlebens macht.
Auch wenn es sich bei der durch den Komponisten vorgenommenen
Textauswahl nicht um eine vollständige Passion handelt, fehlt
keines der wesentlichen Elemente, finden wir chorische Turbae, die
Volks- und Massenszenen ebenso wie die Individualität des Sologesangs.
Rihm hat einmal mehr bewiesen, dass Tradition und Gegenwart keine
Gegensatzpaare zeitgenössischen Musikschaffens sein müssen.
Dass die Aufführung für Komponist und Ensemble zu einem
glänzenden Erfolg wurde, lag nicht zuletzt an der überwältigenden
Akustik des 1998 der Öffentlichkeit übergebenen Konzertsaals,
der mit seinen 1.840 Sitzplätzen das Kernstück des vom
Franzosen Jean Nouvel entworfenen KKL-Zentrums bildet.
Das Lucerne Festival im Sommer 2001 beschäftigt sich vom
15. August bis 15. September mit dem Schöpfungsmythos und seinen
Auswirkungen auf die Musik. Der Amerikaner Elliot Carter und der
Schweizer Komponist Hanspeter Kyburz werden als Composer in Residence,
Anne-Sophie Mutter als Artiste Étoile und Isaac Stern als
Leiter der Meisterkurse teilnehmen. Dass Claudio Abbado nach seinem
Ausscheiden in Berlin einen eigenen Klangkörper für Luzern
ins Leben rufen wird, fügt sich wie ein schimmernder Schlussstein
in dieses musikalische Mosaik der Spitzenklasse.