[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/05 | Seite 5
50. Jahrgang | Mai
Feature
Der Mann, der sich nicht wiederholen wollte
Mythos Miles: Zum 75. Geburtstag von Miles Davis · Von
Bert Noglik
Beginnen wir mit zwei Momentaufnahmen eines an musikalischen Sternstunden
reichen Lebens. Mitte der 50er-Jahre spielte der Trompeter Miles
Davis in einer Quintettbesetzung mit dem Saxophonisten John Coltrane
Round About Midnight. Musik mit jenem Gefühl
von Coolness, das unvergesslich bleibt. Milestones, Klassiker der
modernen Jazzgeschichte. Drei Jahrzehnte später intonierte
Miles Davis ein simples Liedchen von Cindy Lauper, Time
After Time. Wie er das tat, bleibt unbestritten originell.
Verrat am Jazz, schrien die selbst ernannten Gralshüter
einer (zweifelhaften) reinen Jazz-Lehre wie Wynton Marsalis. Öffnung
zu einer neuen Popularität mutmaßten die anderen.
In der Tat liegen zwischen beiden Aufnahmen Welten. Doch wie immer
man die stilistischen Wandlungsprozesse des wechselreichen Lebens
von Miles Davis bewerten mag immer hat er mit seiner Musik
Zeitzeichen gesetzt, Bewunderung oder Kontroversen ausgelöst.
Und stets wusste er mit einem an Magie grenzenden Talent, Töne
in die Welt zu setzen, die Faszination auslösten.
Superstar des Jazz: Klangregisseur
und Trompeter Miles Davis.
Foto: Pakzad
Miles Davis, der am 25. Mai dieses Jahres 75 Jahre alt geworden
wäre, hat dem Jazz eines halben Jahrhunderts seinen Stempel
aufgedrückt. Die nennenswerten Stationen in der musikalischen
Laufbahn von Miles Davis beginnen mit seiner Ankunft in New York.
Er kommt aus St. Louis. Sein Vater hat ihm die Fahrt bezahlt und
unterstützt sein Musik-Studium an der Juillard School mit einem
wöchentlichen Scheck von 50 Dollar.
Miles Davis sucht im Dschungel der Metropole nach dem Altsaxophonisten
Charlie Parker und findet ihn in den Clubs der 52nd Street. Dort
entsteht ein neuer Stil, der später als Bebop bezeichnet wird.
Und Miles, der fortan das Glück hat, immer zur rechten Zeit
mit den richtigen Musikern zu spielen, ist dabei. Der junge Mann,
aufgewachsen als Sohn eines Zahnarztes in einer wohlhabenden Familie
der gehobenen schwarzen Mittelklasse, wird zu dieser Zeit als schüchtern
und verängstigt beschrieben. Er quittiert die klassische Ausbildung,
um sich dem Kreis um Charlie Parker anzuschließen.
Rückblickend kommentierte er: An der Juillard School
hatte ich nichts mehr zu suchen. Schließlich spielte ich mit
den größten Jazzmusikern der Welt. Mit den Tempi
von Parker kann er nicht mithalten, sein Trompetenspiel erweist
sich als unsicher, aber sein Klang lässt aufhorchen. Anders
als Dizzy Gillespie überzeugt er nicht mit Höhenflügen,
sondern mit einem relaxten Lyrismus und einem eigenen Ton
unverkenn- und unverwechselbar wie ein Fingerabdruck oder die DNS-Signatur.
Dizzy Gillespie über den Trompetenkollegen: Er war ein
Mann, der mit sich einen Pakt abgeschlossen hatte, sich niemals
selbst zu wiederholen. Das ist ebenso wahr wie der Satz, Miles
Davis habe stets nur das eine gespielt: sich selbst. Und auf die
Frage, was er denn hinterlassen wolle, sagte er lapidar: My
sound.
Wie kein anderer Musiker des Jazz hat Miles Davis an mehreren
Schnittstellen Bedeutendes geleistet, sowohl Brüche als auch
fließende Übergänge mitgestaltet und vorangetrieben.
Was sich heute sogar jazzpädagogisch rekonstruieren und aufbereiten
lässt, entstand im Prozess von Spiel- und Lebensprozessen,
die auf Risiko setzten. Miles Davis war am Übergang von den
hitzigen Musiziermustern des Bebop zur klanglichen Reflexion des
Cool Jazz beteiligt und hat, gemeinsam mit Gil Evans, großorchestrale
Klanggemälde mit melancholischen Stimmungen geschaffen. Er
ist weitergegangen, indem er die modale Spielweise forcierte und
die Improvisationen von den Bindungen an die konventionellen Akkordfolgen
löste. Und er schuf Beispiele musikalisch spontaner Interaktionen
im Gruppenspiel, die bis an die Grenzen der Tonalität führten.
Doch Miles Davis folgte nicht dem grenzenlosen Freiheitsstreben
des Free Jazz, sondern ging schließlich in eine populärere
Richtung, indem er Einflüsse aus Jazz, Rock und ethnischen
Quellen fusionierte und seine Musik elektrifizierte. In den 80er-Jahren
bediente er sich auch popmusikalischer Themen, die er allerdings
in seine raffiniert arrangierten und produzierten Soundcollagen
integrierte. Und über allem schwebt sein Ton, der selten strahlt,
sondern eher mit einer unterschwelligen Trauer jubiliert.
Chemische Reaktionen
Neben seinem Ton und seinem Improvisationstalent ließ Miles
Davis bereits Ende der 40er-Jahre eine Begabung erkennen, die zur
Besonderheit seines Lebenswerkes beitrug: die konzeptionelle Ausformung
von Musik. Gemeinsam mit der Clique um den Arrangeur Gil Evans war
er an den bahnbrechenden Aufnahmen eines Nonetts beteiligt, dessen
Neuerungen für die Entwicklung des Cool Jazz und in
der Folge des Free Jazz wichtig wurden (siehe auch das Album
Birth Of The Cool). Mit einer damals ungewöhnlichen
Besetzung, zu der Waldhorn und Tuba zählten, entstanden nahtlos
ineinander übergehende Solo- und Kollektivpassagen, die mit
ihrem verhaltenen Klanggestus und Klangfarbenreichtum eine Alternative
zur Expressivität des Bebop demonstrierten. Gemeinsam mit Gil
Evans schuf Miles Davis dann auch jazzorchestrale Meisterwerke wie
die berühmten Sketches Of Spain, von denen der
einsam durch Klanglandschaften wandernde Trompeter sagte, es sei
Gil Evans um die impressionistische Auffächerung der Saite
einer Flamenco-Gitarre gegangen.
Ein weiteres Talent von Miles Davis hat er selbst beschrieben:
Aber das war meine Begabung, verstehst du, die Fähigkeit,
bestimmte Jungs herauszufinden und damit ne chemische Reaktion
in Gang zu setzen, die sich von selbst weiterträgt; sie spielen
zu lassen, was sie können, und darüber hinaus. Anfangs,
bei Charlie Parker, war Miles Davis der Lernende, dann entwickelte
er mehr und mehr die Gruppenkonzeptionen, im Quintett mit John Coltrane,
in Besetzungen mit Cannonball Adderley oder Sonny Rollins, dann
mit Wayne Shorter, Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams
und im Übergang zur Fusion Music mit Musikern wie Chick Corea,
Joe Zawinul oder John McLaughlin, in den 80er-Jahren mit dem Saxophonisten
Bill Evans, den Gitarristen Mike Stern und John Scofield sowie dem
Bassisten Marcus Miller. Die Liste ließe sich fast endlos
fortsetzen. Es gibt kaum einen Musiker, den Miles Davis ausgesucht
hat, der später kein Star mit eigenen Gruppen geworden wäre.
Die Psyche von Miles Davis lässt sich mit seiner Musik vergleichen:
Wechselhaft strukturiert, teils hochkomplex, teils von einer Einfachheit,
hinter der sich Raffinessen verbargen und Abgründe auftaten.
Dass er nicht aus dem Ghetto, sondern aus dem schwarzen Bürgertum
kam, gleichwohl die Diskriminierungen eines Afroamerikaners und
die Halbwelt des Clublebens kennen lernte, dass er vom schwarzen
Selbstbewusstsein angetrieben, aber zugleich von einem weißen
Publikum gefeiert wurde all das mag zur Widersprüchlichkeit
beigetragen haben. Nicht selten spielte er mit dem Rücken zum
Publikum, beleidigte er Journalisten, verursachte er Skandale.
Hinter seinem Hochmut verbargen sich gewiss auch Ängste. Gil
Evans: Glauben Sie nicht alles, was Sie über Miles Davis
lesen. Hinter der Maske ist er einer der liebenswürdigsten
und freundlichsten Menschen. Doch er trug oft eine Maske,
stilisierte sich selbst mit dem Habitus der Arroganz sowie
was das Erscheinungsbild anbelangt in Maßanzügen,
Hippie-Look, Fantasy- und Designer-Mode. Er wurde nicht nur zum
ersten Superstar des Jazz gekürt, er hat diese Rolle auch selbst
gespielt. Zu seiner Aura zählten mondäne Frauen, teure
und schnelle Autos, oftmals leider auch Drogen und Alkohol.
Eines seiner Alben widmete Miles Davis dem Boxer Jack Johnson,
der 1908 als erster Schwarzer den Weltmeistertitel im Schwergewicht
errungen hatte. Auch der Trompeter Davis war ein Boxer als
Amateur im Ring und in der Arena des Lebens. Als schmächtiger,
unbescholtener Junge kam er 1944 nach New York. Zwei Jahre später
musste er einen schweren Zusammenbruch seines von Heroin und Alkohol
abhängigen Bandleaders Charlie Parker miterleben. Nach der
Rückkehr von seiner ersten Europa-Reise im Jahre 1949
Paris liegt ihm zu Füßen und Miles schwärmt für
Juliette Gréco verfällt Miles Davis im tristen
Musikalltag von New York selbst den Drogen. 1954 schafft er es
wenngleich nicht für immer , sich von der Sucht zu befreien.
Der Kraftakt ist enorm und sagt einiges über die Willenskraft
von Miles Davis aus: Nach einer Cold Turkey benannten
Methode gelingt ihm der Selbstentzug.
Krise und Sucht
Miles Davis ist mehrfach tief abgestürzt und wieder aufgetaucht.
Als besonders gravierend erwies sich sein Rückzug Mitte der
70er-Jahre: Von 1975 bis 1980 rührte ich mein Horn nicht
an, über vier Jahre rührte ich es nicht ein einziges Mal
an. Über die Motive seines Rückzugs sagte der Trompeter:
Gelangweilt, das ist das Wort. So gelangweilt, dass du gar
nicht mehr wahrnimmst, was Langeweile überhaupt ist. Ich ging
vier Jahre nicht aus dem Haus.
Nachdem die Musikwelt den Trompeter schon fast abgeschrieben hat,
gelingt ihm noch einmal ein Aufstieg aus eigener Kraft. 1980 ist
Miles Davis wieder da. Der schwarze Prinz etabliert sich als Held
der Pop-Kultur, avanciert zum Kunstprodukt, bastelt am eigenen Mythos
und mischt wieder neue Sounds zusammen. Was seine Physis anbelangt,
so ist er nur noch ein zusammengeflicktes Wrack. Doch das gestylte
Fabelwesen behauptet sich durch eine Überdosis Ego, Kreativität,
Modebewusstsein und visionäre Klangvorstellungen. Mit ausgefeilten
Studioproduktionen wie Decoy, Youre Under
Arrest, Aura, Tutu und Amandla
sowie mit begeistert aufgenommenen Live-Konzerten beflügelt
er den musikalischen Zeitgeist. Das Album Tutu wird
vom Musikkritiker Mike Zwerin als Soundtrack zum Jahrzehnt
bezeichnet. Miles hat es Bischof Desmond Tutu gewidmet. Einen anderen
Aspekt schwarzer Realität reflektiert er mit Youre
Under Arrest: Die Idee entstand aus den Problemen, die
Schwarze überall mit der Polizei haben. Und er fügte
eine wohl eher untypische, aber für seine Lebensumstände
bezeichnende Episode an: Sobald ich in Kalifornien durch die
Gegend fahre, kriege ich Ärger mit der Polizei. Es gefällt
ihnen einfach nicht, dass ich in einem gelben 60.000-Dollar-Ferrari
spazieren fahre.
Kein Jazztrompeter, kein Improvisator, auf welchem Instrument auch
immer, kein Komponist mit Antennen für die Klänge ringsum,
wird Miles Davis ausklammern können. Man mag ihn mögen
oder hassen. Unmöglich, ihn zu ignorieren. Allein das wäre
ein Triumph für einen Musiker, der in der Gegenwart gelebt
und in die Zukunft gedacht hat, der bei Charlie Parker in die Lehre
ging, sich mit Karlheinz Stockhausen und John Cage beschäftigte,
der Jimi Hendrix und Prince bewunderte und doch nie vergaß,
was er als Kind auf den Landstraßen in Arkansas hörte
den Blues der Verzweiflung und den Sound des Überlebens.
Noch wenige Wochen vor seinem Tod am 28. September 1991 infolge
von Lungenentzündung, Atemnot und Schlaganfall konzertierte
Miles Davis in der Londoner Royal Festival Hall und in der Hollywood
Bowl. Über den Boxer Jack Johnson sagte er einmal: Er
starb, wie er lebte in einem schnellen Wagen.