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nmz-archiv
nmz 2001/05 | Seite 17
50. Jahrgang | Mai
Rezensionen
Einfallsreich besungener Karrierefrühling
Die junge Violingeneration profiliert sich mit lohnenden Repertoireausflügen
Der unbegleitete Geigenton als Natur- oder als Ausnahmezustand;
als introvertierter Dialog mit dem Werk oder als imaginäre
Kadenz vor einem Orchester das inne-, einem Publikum, das den Atem
anhält. Sie schließen sich nicht aus, diese beiden Grundhaltungen
des Violin-Solo-Spiels, doch sie markieren die Pole, zwischen denen
es abzuwägen gilt. Und es dürfte kein Zufall sein, wenn
das Pendel bei einem Geiger wie Tomo Keller, der sich gegen die
Solisten- und für die Orchesterkarriere entschieden hat, deutlich
in Richtung werkbezogener Innenschau ausschlägt. Wohl dem Orchester,
das, wie nun die Essener Philharmoniker, einen solchen Konzertmeister
hat!
Keller, Preisträger des Deutschen Musikwettbewerbs, in dessen
Primavera-Edition sein CD-Debüt bei Ars Musici
erschienen ist, verfügt über eine manuell und intonatorisch
extrem sichere Technik. Er stellt sie uneitel in den Dienst einer
Musik, zu der er bei allem Engagement immer einen Rest an Distanz
zu bewahren scheint. Bei Bach schlägt das bisweilen in leichte
Nivellierungen der ansonsten sehr natürlich und stilsicher
bewältigten Tanzcharaktere um. Bei Ysaye und Bartók
dagegen lenkt diese Haltung den Blick unweigerlich auf die musikalische
Substanz und man ertappt sich dabei, mehr über die Musik als
über das Geigen nachzudenken. Ein angenehmer Zustand.
Dass eine weitere Preisträgerin des Deutschen Musikwettbewerbs
ein ganz ähnliches Programm für ihre erste Einspielung
gewählt hat, ist schon bemerkenswert. Susanna Henkels Zusammenstellung
ist vielleicht noch eine Spur stringenter, verzahnt sie doch Bachs
E-Dur-Partita mit Ysayes zweiter Solosonate, die mit einem Zitat
aus dem Partiten-Preludio beginnt, und hängt an Bartóks
Solowerk mit Isang Yuns Königlichem Thema ein weiteres
direkt auf Bach bezogenes Werk an. Yun nimmt das Thema des Musikalischen
Opfers zum Ausgangs- und Angelpunkt einer achtteiligen, unerbittlich
fortschreitenden Variationsreihe, der Susanna Henkel suggestiv Gestalt
verleiht. Im Gegensatz zu Keller scheint sie der Musik immer ganz
nahe kommen zu wollen, nimmt kleine Unsauberkeiten, Nebengeräusche,
herbe Tongebungen in Kauf und gewinnt dadurch bei Ysaye und vor
allem bei Bartók das an Glaubwürdigkeit, was sie in
den etwas eckig differenzierten Phrasierungen bei Bach an musikalischem
Fluss verliert.
Elena Denisovas mit pastosem Rubato durchsetzter Bach-Zugriff nimmt
sich demgegenüber leicht verstaubt an. Im Zentrum des Interesses
steht bei ihr aber ohnehin Mikhail Kollontajs weit ausgreifende
Partita Testament, eine technisch wie vom Sujet her gewichtige Komposition,
die in elf Stationen nichts Geringeres als ein an der Lebens- und
Leidensgeschichte Jesu entlang gedachtes Geheimnis des Glaubens
zu enträtseln versucht. Denisova fühlt sich hier hörbar
sicherer, gibt sich dem nicht wirklich dankbaren Violinpart bedingungslos
hin und erzielt so Momente von eindringlicher Spannung, selbst wenn
Kollontaj diese nicht durchgängig aufrecht erhalten kann.
Auch andere aktuelle Violinaufnahmen stehen für die von der
allgemeinen Marktsättigung diktierte, nichtsdestotrotz erfreuliche
Tendenz, den Karrierefrühling nicht mit den mittlerweile nur
mehr vermeintlich marktgängigen Repertoire-Rennern zu unterfüttern,
sondern Profilierung auch durch das Besetzen von Nischen zu betreiben.
Latica Honda-Rosenberg, erste deutsche Finalistin in der Geschichte
des Tschaikowsky-Wettbewerbs, legt mit dem hochkompetenten Avner
Arad am Klavier auf zwei CDs eine packende Gesamteinspielung der
Violinkammermusik Ernest Blochs vor. Die Bandbreite seines Schaffens,
von der aufwühlenden Kraft der beiden Sonaten über die
konzentrierte Klarheit der Bachschen Geist atmenden, nicht
bloß herbeizitierenden Solosuiten bis hin zu seiner ganz eigenen
Ausformung einer Musica hebraica ist in Honda-Rosenbergs
differenziert fülligem Ton, ihrer technischen Versiertheit
und ihrem sicheren Stilgefühl bestens aufgehoben.
Überaus lohnend auch das Plädoyer für Erich Wolfgang
Korngold, das Sonja van Beek und Andreas Frölich beim immer
stärker zum Korngold-Spezia-listen avancierenden Label cpo
abgeben. Bis auf die beeindruckende Reife der frühen, groß
dimensionierten Violinsonate des gerade mal 15-jährigen Wiener
Wunderkinds ist die Beute zwar weniger gehaltvoll, besteht das übrige
uvre Korngolds für Violine und Klavier, das komplett
auf dieser einen Scheibe Platz hat, eher aus Gelegenheitswerken,
Opernauskopplungen und anderen Zweitverwertungen. Doch schmälert
dies den Wert der Aufnahme keineswegs, vielmehr erweist sich diese
Schau auf einen Teilaspekt von Korngolds Schaffen als ein dessen
musikalische Persönlichkeit faszinierend widerspiegelndes Pars
pro toto, das die Geigerin und ihr Partner mit einer nicht unpassenden
Spur von kontemplativer Zurückhaltung servieren, ohne ins nüchtern
Neutrale zu verfallen.
Undankbarer erscheint auf den ers-ten Blick die Aufgabe, Max Regers
kammermusikalisch durchgearbeitem, kaum einmal emphatisch das Geigerische
entfaltendem Tonfall gerecht zu werden. Im Fall der Sonate op. 107
erklärt dieser sich aber ganz einfach aus der ursprünglichen
Version für Klarinette und Klavier, die Reger nicht virtuos
zu kolorieren für nötig erachtete. Zu Recht, wie Ulf Wallin,
der im Kreis dieser Neuerscheinungen erfahrenste Geiger, zusammen
mit Roland Pöntinen in seiner, die cpo-Serie in die dritte
Runde führenden Aufnahme deutlich macht. Und doch ist man bei
aller Sorgfalt und Wärme der Tongebung ein wenig erleichtert,
wenn mit den beiden Miniaturen wenigstens für zwei Zugaben
die Zügel thematischer Durcharbeitung losgelassen werden.
Einen Live-Mitschnitt von 1999 hat man bei Sony für die erste
CD des damals 20-jährigen Daishin Kashimoto ausgewählt.
Ein Risiko? Kaum, wenn jemand unter Konzertbedingungen so makellos
geigt wie der Japaner und die Aufnahme so stark nachbearbeitet ist,
dass nur der Applaus die Präsenz des Publikums verrät.
Sein Ton ist geschliffen präzis, leicht gläsern, aber
immer präsent, was der zweiten Prokofieff-Sonate und Takemitsus
Hika bestens bekommt, Beethovens Frühlingssonate
dagegen etwas glättet.
Den musikalisch stärksten Eindruck unter den jungen Interpreten
hinterlässt zweifellos der 26-jährige Daniel Hope. Er
verfügt über die größte Bandbreite an Gestaltungsmöglichkeiten,
das differenzierteste Vibrato und strahlt überdies eine bezwingende
interpretatorische Autorität aus. Nach zwei profiliert auf
die Moderne gerichteten diskografischen Blicken (darunter Schnittke,
Takemitsu und Penderecki) lenkt er in seiner neuen Nimbus-Einspielung
die Aufmerksamkeit auf spezifisch britisches Repertoire, was die
PR-Naivlinge bewog, Hope für das Cover ausgiebig vor dem Union
Jack posieren zu lassen. Hopes Engagement für Elgars nobel
abgedämpften Überschwang, Finzis schwelgerische, nie harmlose
Melodik und Waltons formal souverän vorangetriebene Durchführungen
ist aber nie bloße Pose, ist in jeder Phase ernst zu nehmende,
von Simon Mulligan am Klavier bestens mitgetragene Aufklärungsarbeit
in Sachen Englische Kammermusik. Statt in Bannerwerbung hätte
Nimbus also lieber in eine Übersetzung des Booklets investiert,
in dem Hope, wenn auch nicht immer präzis, so doch sympathisch
für das eingespielte Repertoire wirbt.
Juan Martin Koch
Diskografie
Bach:
Partita Nr. 1, h-Moll; Bartók: Sonate für Violine
solo; Ysaye: Sonate Nr. 3, d-Moll; Tomo Keller (Violine
solo)
Ars Musici Primavera AMP 5092-2
Bach:
Partita Nr. 3, E-Dur; Ysaye: Sonate Nr. 2, a-Moll; Bartók:
Sonate für Violine solo; Yun: Königliches Thema;
Susanna Henkel (Violine solo)
The Spot Records 28869-3
Kollontaj:
Partita Testament op. 30; Bach: Partita Nr. 2, d-Moll;
Elena Denisova (Violine solo)
Etcetera KTC 1236
Bloch:
Sonaten Nr. 1 und 2; Mélodie; Baal-Shem; Abodah; Nuit exotique;
Suite hébraique; Suiten für Violine solo Nr. 1 und
2; Latica Honda-Rosenberg (Violine), Avner Arad (Klavier)
Arte Nova 74321 76810 2
Korngold:
Sonate in G, op. 6; Tanzlied des Pierrot; Mariettas Lied; Caprice
fantastique Wichtelmännchen; Serenade aus der
Ballettpantomime Der Schneemann; Gesang der Heliane;
Much ado about nothing op. 11; Sonja van Beek (Violine), Andreas
Frölich (Klavier)
cpo 999 709-2 (Vetrieb: jpc)
Reger:
Sonate B-Dur op. 107; Kleine Sonate d-Moll op. 103 B; Petite Caprice
g-Moll; Romanze g-Moll; Ulf Wallin (Violine); Roland Pöntinen
(Klavier)
cpo 999 725-2 (Vertrieb: jpc)
Beethoven:
Frühlingssonate; Prokofieff: Violinsonate
Nr. 2 d-Moll; Takemitsu: Hika; Daishin Kashimoto (Violine),
Itamar Golan (Klavier)
Sony SK 89454
Elgar:
Sonate e-Moll op. 82; Finzi: Elegy; Walton: Sonata
for Violin and Piano; Daniel Hope (Violine), Simon Mulligan (Klavier)
Nimbus NI 5666