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nmz-archiv
nmz 2001/05 | Seite 42
50. Jahrgang | Mai
Jazz, Rock, Pop
Fette Reime und fette Beats
Neue Liederbücher der ausgefallenen Art
Liederbücher gibt es wie Sand am Meer, muss der Sammler zerknirscht
erkennen, und viele davon taugen herzlich wenig. Dümmliche
Auswahl, schlechte Dokumentation, falsche Melodien alles
ist schon dagewesen. Um so erfrischender ist das Erscheinen richtig
guter Liederbücher; im Folgenden werden vier alte und zwei
brandneue vorgestellt.
In den Konzentrationslagern der Nazis gab es durchaus auch illegale
Aktivitäten, mit denen sich die Insassen Mut machten. So wurde
nicht zuletzt auch gesungen. Ein eindrucksvolles Dokument wurde
von einem unbekannten Häftling erstellt, der handschriftlich
kalligraphisch gestaltete und illustrierte Liedertexte quer durchs
deutsche Volkslied bis hin zu den Moorsoldaten zusammentrug.
Das Lagerliederbuch. Lieder, gesungen, gesammelt und geschrieben
im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin 1942,
das beim Dortmunder Verlag pläne ab 1980 vier Auflagen
erlebte, ist leider vergriffen.
Aus der deutschen Folkszene kamen Heide Buhmann und Hanspeter Haeseler,
die Ende der 70er-Jahre nach eigenem Bekunden aufsässige,
zornige, witzige und lebensfrohe Volkslieder [sammelten], die aus
den vorhandenen Schul- und Wanderliederbüchern herausgefallen
waren. Mit einer erklecklichen Sammlung wandten sie sich an
diverse Verlage, die alle dankend abwinkten, weil sie keinen Markt
sahen. So erschien Das kleine dicke Liederbuch Lieder
und Tänze bis in unsere Zeit mit handgeschriebenen
Noten und getippten Texten, Kommentaren und Quellen im Eigenverlag
(Feierabendgrund 15, 36381 Schlüchtern). Das kleine Dicke
wurde unverhofft zum Klassiker und geht demnächst mit der 7.
Auflage ins 50. Tausend (!), wobei der Preis unter 30 Mark bleiben
wird. Wer dieses Buch nicht kennt, darf kaum behaupten, viel von
deutschen Volksliedern zu wissen. Mit diesem Hit, ja: Evergreen
auf der hohen Kante wagten sich Heide und Hanspeter an Computersatz,
Hochglanz und Farbe.
Magische Momente und Zeitzeichen
erschienen 1989 und 1993 als die ersten Bände der Reihe Liederbuch
der Rock- und Songpoesie (ISBN 3-927638-00-5 und 3-927638-02-1),
mit Sorgfalt und Niveau zusammengestellte Sammlungen des neueren
deutsch-deutschen Liedguts. Danach firmierte man zur GmbH als Rockbuch
Verlag und brachte vor kurzem Band 3 auf den Markt, der in
gewisser Weise das ursprüngliche Konzept zu sprengen scheint.
HipHop XXL Fette Reime und Fette Beats in Deutschland
erschien mit Unterstützung von MTV und dem Goethe-Institut,
welches offenbar und zu Recht die didaktische Verwertbarkeit der
meist nicht ungewitzten Szenesprache erkannte. Wer es noch nicht
wusste: die erstaunlich unkommerzielle Jugendkultur HipHop ist die
deutsche Fortsetzung des amerikanischen Rap, Breakdance und Graffiti
inklusive. Entsprechend wurde der 224-Seiten-Band designed
und mit vielen Fotos ausgestattet. 28 Songs mit Texten, Noten und
Arrangement-Hinweisen enthält das Buch, das auch darüber
aufklärt, was eigentlich Flows oder MCs sind, und zum Mitmachen
und Nachspielen anregt. Diese Songs finden sich auf der zugehörigen
Doppel-CD, sechs davon noch einmal instrumental zum Selber-Rappen.
Das Paket (ISBN 3-927638-20-X, ohne CDs 3-927638-03-X) gehört
zwangsläufig in die Hände von Pädagogen.
Ebenfalls neu ist ein altes Liederbuch wiederum der besonderen
Art. Als die Nazis den jüdischen Mitbürgern das Benutzen
deutscher Liederbücher untersagten, gaben zwei
Lehrer der Hamburger Talmud-Tora-Schule ein eigenes Liederbuch heraus,
das in zwei Auflagen auf gut 5.000 Exemplare kam. Eine dritte Auflage
des Werks von Joseph Jacobsen und Erwin Jospe kam nicht mehr zustande.
Beachtlich war und ist die Zusammenstellung von hebräischen,
jiddischen und deutschen Liedern. So findet sich aus dem 133. Psalm
das Hine ma tow neben Zehn Brider und Der
Mond ist aufgegangen nicht einfach eine Mischung voller
Optimismus, sondern ein Beleg dafür, wie sehr sich Herausgeber
und Zielgruppe als Deutsche fühlten.
Im Anhang findet sich neben einer kurz gefassten Allgemeinen Musiklehre
eine interessante und witzige Übersichtstabelle zur
Geschichte der Musik bei den Juden beginnend beim
1. Buch Mose. Dieses Hawa Naschira. Auf! Lasst uns singen!
liegt nun als Faksimile vor, doch damit nicht genug. Herausgegeben
von Dagmar Deuring, Zew Walter Gotthold, Rainer Licht und dem Hamburger
Urfolkloristen Jochen Wiegandt erschien dazu als zweiter
Band ein Lexikonteil, der sämtliche Lieder eingehend dokumentiert
sowie darüber hinaus tiefe Einblicke in das deutsch-jüdische
Leben von damals (mit allerhand Fotos) und in jüdisches Religionsverständnis
überhaupt gibt. Somit sind die beiden Bände im Schuber
(534 S., Hamburg 2001: Dölling und Galitz Verlag, ISBN 3-930802-63-5,
56 Mark) keinesfalls nur etwas für Sammler, sondern wertvolle
Dokumente zur deutschen Geschichte.