[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2001/05 | Seite 23
50. Jahrgang | Mai
Bücher
Analytische Strenge und Neigung zum Mythos
Neue Erkenntnisse über den Schönberg-Verehrer René
Leibowitz
Sabine Meine: Ein Zwölftöner in Paris. Studien zu Biographie
und Wirkung von René Leibowitz (19131972), 287 Seiten,Wißner-Verlag,
Augsburg 2000
Im Winter 1947 fuhr René Leibowitz in die Vereinigten Staaten
und besuchte dort sein Idol. Arnold Schönberg war
über den engagierten Herrn aus Paris, der ihm ein Musikfestival
widmete, Schriften von ihm übersetzte und seine Werke in Darmstadt
dirigierte, verwundert und auch anfangs erfreut. Leibowitz seinerseits
erhoffte sich vom direkten Kontakt eine Legitimierung, die ihm in
Europa vor seinen Kollegen und Schülern Respekt und Handlungsspielraum
verschaffen sollte.
Indem sich der heute fast vergessene Musikschriftsteller, Komponist
und Dirigent René Leibowitz für die Musik Schönbergs
und seiner Schule im Paris der Nachkriegszeit engagierte, hätte
er sich eine persönliche Nische gesucht, in der er auf Dauer
zwar zum Scheitern verurteilt, für kurze Zeit jedoch produktiv
und erfolgreich gewesen sei. Sabine Meine zielt mit dieser These
auf die Ambivalenz musikalischer Wirkungsgeschichte und im konkreten
Fall auf eine Vermittlerfigur, deren Ausstrahlung schillernd, deren
uvre jedoch nur ein epigonales war.
Ihr Ausgangspunkt ist zunächst die wenige Sachliteratur zur
Person. Die darin verbreitete Meinung, Leibowitz wäre seinerzeit
nur zu dogmatisch gewesen, ist der Autorin jedoch zu
mechanisch, zu einseitig werkbezogen gedacht. Um Leibowitz
musikhistorischen Part bezüglich Schönbergs zu rekonstruieren
und neu zu bewerten, bezieht sie deshalb disziplinübergreifend
auch Leibowitz Schriften, deren kulturhistorischen Kontext,
das Paris der 30er- und 40er-Jahre, sowie Biografie und Persönlichkeitsbild
mit in ihre Forschungen ein.
René Leibowitz, geboren 1913 in Warschau, Enkel eines jüdisch-orthodoxen
Rabbiners aus dem heutigen Lettland, umgab sich demnach gern mit
Legenden. Er verschwieg, dass er musikalisch ein Autodidakt und
aus innerfamiliären Zwängen nach Frankreich geraten war.
Vielmehr nannte er sich einen Schüler Anton von Weberns und
später den einzigen Vertreter der Schönbergschen
Richtung in ganz Paris. Letzteres traf zu für
die Zeit vor und kurz nach dem Krieg. Sabine Meine hat im Nachlass
der Paul- Sacher-Stiftung in Basel bislang verschlossene Dokumente
studiert und weist nach, dass Leibowitz Entscheidung und Engagement
für die Zwölfton-Musik eine Frage seiner Identität,
also die Konsequenz und Konstante eines persönlichen Lebenswegs
war. In den 30er/40er-Jahren, so erinnert die Hannoveraner Romanistin
und Musikologin, provozierte deutsche Musik in Paris. Wer für
sie eintrat, geriet zwangsläufig ins Licht der Öffentlichkeit.
Leibowitz suchte allerdings weniger die Aufmerksamkeit der reichlich
desinteressierten Pariser Musikwelt. Er sah sich in philoso-phisch-literarischen
Kreisen zu Hause und brillierte mit Theorien einer neuen Ordnung
in der Musik zuerst in surrealistischen Zirkeln, später im
Kontext der Existenzialismus-Debatten um Sartre, Bataille und Levi-Strauss.
Als Laienphilosoph verklärte er die kompositorische Technik
zum Gesellschaftsentwurf. Zwölfton-Musik war für ihn das
Ziel einer Entwicklung, die mit Bach begann und in Schönberg
ihren Gipfel erreicht.
Solcherlei Fortschrittsdenken und Absolutheitsanspruch zieht sich
auch durch Leibowitz Schriften, die Anfang der 40er- Jahre
in Südfrankreich, auf der Flucht vor den deutschen Besatzern
entstanden, und die er nach dem Krieg in Paris sehr schnell zu publizieren
verstand. 1944, im Jahr der Befreiung, herrschte hier Bedarf an
Utopie und Innovation. Leibowitz schrieb in Sartres Les Temps Modernes,
er verfügte über Noten, Aufführungspraxis und eigene
Kompositionen und avan-cierte unversehens zur zentralen Vermittlergestalt.
In den Jahren des Aufbruchs, gegenüber dem Nachwuchs und der
nicht-musikalischen Avantgarde vermochte er dies auch zu leis-ten.
Von Schönberg persönlich legitimiert, dominierte Leibowitz
zunächst auch die Ferienkurse in Darmstadt. In den Jahrgängen
1948/49 plädierte er für die Dodekaphonie als absolutes
Maß einer neuen Musik. Zeitgleich jedoch drängte sein
Schüler Pierre Boulez bereits zum Bruch mit Konventionen jeglicher
Art. Leibowitz, der sich auf Traditionen berief, unterlag in diesem
nicht ganz folgenlosen Disput. Da er auf Schönberg als einer
Art Lebens-Thema beharrte, verlor er seine Schlüsselfunktion
und wurde von einer neuen Avantgarde überholt und verdrängt.
Was im letzten Drittel seines Lebens geschah, ist summarisch vermerkt.
Sabine Meine hat sich in ihrer beim Augsburger Wißner-Verlag
im vergangenen Herbst publizierten Dissertation auf die Schönberg-Vermittlung
Mitte der 40er-Jahre konzentriert. Auch später, so immerhin
skizziert die Autorin, blieb Leibowitz seiner Vorbildgestalt weithin
treu. Dies äußerte sich außer im publizistischen
auch im kompositorischen Werk, das fünf dodekaphonische Opern,
Lieder und zahlreiche Kammer- und Klaviermusik aufweist und kaum
Beachtung fand. Noch ein Mal allerdings, zehn Jahre bevor er 1972
verstarb, schrieb René Leibowitz ein kleines Kapitel Geschichte.
In diesem Falle als Dirigent am Pult des Royal Philharmonic Orchestra
mit einer sensationellen Platten-Einspielung von Beethovens neun
Sinfonien. Auch hier schlug zu Buche, worin Leibowitz unübertroffen
war: in genauester Kenntnis der Werke, in analytischer Strenge und
in seiner Neigung zum Mythos, zum Visionären.