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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 36
50. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Der Rote Platz und die Hymnen der Welt
Das russische Festival für zeitgenössische Musik Moskauer
Forum
Beim Moskauer Forum, dem wohl wichtigsten Festival
mit zeitgenössischer Musik in Russland, ist vieles anders als
bei westlichen Musikfestivals. Das fängt bei stilistischen
Prägungen der hier vorrangig vorgestellten russischen Musik
an, betrifft aber auch die Interpretationen westlicher Musik
und sogar die Publikumsreaktionen hierauf.
In Russland gab es im letzten Jahrzehnt, nicht anders als in manchen
anderen ehemaligen Ostblock-Staaten, eine bemerkenswert starke Hinwendung
zu geistlichen Themen. Maßgeblich mitgeprägt wurde diese
Tendenz von jenen drei Komponisten, die oft als Troika der russischen
Musik nach Schostakowitsch bezeichnet wurden: Sofia Gubaidulina,
Edison Denissow und Alfred Schnittke. Zwei frühe Werke der
inzwischen verstorbenen Komponisten Denissow und Schnittke dienten
innerhalb des Moskauer Forums dazu, an diese inzwischen
historische Vorreiterrolle zu erinnern. In dieser Tendenz zum Geistlichen
schwingen in Moskau noch heute Erinnerungen an etwas lange Unterdrücktes
mit. Erfrischende Alternativen, die entsprechend positiv aufgenommen
wurden, boten sowohl eine mit deklamatorischen Raffinessen aufwartende
Minitatur-Totenmesse für Sopran und Streichquartett des 1943
geborenen Alexander Wustin als auch eine Ritual genannte
Komposition für Sopran und Schlagzeug des zehn Jahre jüngeren
Alexander Raskatow.
Überhaupt fiel gerade in diesem Jahr auf, wie stark namentlich
ein lange eher ausgegrenzter Dichter wie der Sprachmagier Chlebnikow
in der russischen Gegenwartsmusik präsent ist. Dabei reichte
das Spektrum von eher leichten Vergegenwärtigungen von Chlebnikows
Sternensprache bis zu fast unangemessen folkloristisch-euphorischeren
Tönungen in der Vokalkomposition am Rande von Vladimir
Nikolaews, einer Art Hymne auf die oft beschworene Eigenwilligkeit
der russischen Kultur.
Der künstlerisch Verantwortliche des Festivals ist der 1955
geborene Komponist Vladimir Tarnopolski, der auch in diesem Jahr
bescheiden genug war, auf die Programmierung seiner eigenen Musik
zu verzichten. Tarnopolski ist seit einigen Jahren Nachfolger Denissows
am Moskauer Konservatorium und außerdem auch Leiter des Studios
für neue Musik, des nahezu einzigen russischen Spezialensembles
für zeitgenössische Musik, das man gelegentlich auch schon
in Westeuropa hören konnte und beim Moskauer Forum
ein festes Ensemble-in-residence ist. Obwohl die Veranstaltung in
ihrer Überschrift explizit Avantgardemusik ankündigte,
war das stilistische Spektrum der programmierten Werke russischer
Provenienz bewusst weit gefasst: Es reichte von verschiedensten
Formen der Annäherung an westliche Avantgardemodelle bis hin
zu geradezu unbekümmert isolationistischen Arbeiten.
Bei den Akzenten westlicher Musik, mit der Tarnopolski durch zahlreiche
Auslandsaufenthalte vertraut ist wie kaum ein anderer in diesem
Lande, konzentrierte er sich auf eine Auswahl namhafter Persönlichkeiten:
Werke von Cage, Ligeti, Zimmermann, Stockhausen, Xenakis, Lutoslawski,
Nono, Steve Reich und Georg Crumb waren Tarnopolskis Antwort auf
die in Russland nach seiner Meinung herrschende Rückständigkeit.
Und man mag sich seinem Urteil anschließen, dass in Russland
nahezu die gesamte Musik der 50er- und 60er-Jahre mit Ausnahme der
von Cage immer noch als etwas irritierend Neues aufgenommen wird.
Doch dieses Neue wollten, wie schon in den vergangenen Jahren, bemerkenswert
viele Leute hören: Bei fast allen der insgesamt 15 Konzerte
dieses Festivals, durchweg mit Werken für kleinere Ensembles
oder Kammerbesetzungen, platzte der rund 400 Plätze bietende
klassizistische Rachmaninoff-Saal des Moskauer Konservatoriums aus
allen Nähten.
Man öffnet, wenn es heiß ist, ganz einfach die Fenster.
Man lacht auch dann gerne, wenn etwas unfreiwillig komisch erscheint
was bei der rabenschwarzen Monodia von Alexander
Knaifel, die die Sopranistin Elena Vassilieva mit einem Sinn für
ungebrochenes Pathos bot, dann doch auch etwas störend erschien.
Und man nimmt bei einem Komponisten wie Cage, dem das Mark Pekarsky
Ensemble ein Porträtkonzert widmete, fast ausschließlich
die schwungvoll-bunten oder clownesken Momente wahr, was offenkundig
auch auf die etwas oberflächlichen Interpretationen dieses
Schlagzeugensembles zurückwirkte.
Ein unbezweifelbarer Reiz dieser Moskauer Veranstaltung bestand
darin, dass die Präsentationen russischer und westlicher Musik
auf sinnfällige Weise mit einem thematischen roten Faden verknüpft
waren. Es ging dabei um die Integration von im weiteren Sinne ethnischen
Aspekten. Darunter verstand Tarnopolski sowohl Folkloreelemente
als auch Hymnen. Die langen Diskussionen um die russische Nationalhymne,
die erst unlängst mit einer Übernahme der vielen verhassten
Melodie aus der Sowjetzeit endeten, haben die Aktualität dieser
thematischen Festivalfacette unter Beweis gestellt. Wer wollte,
konnte bemerkenswerte Parallelerscheinungen hierzu bei der zeitgleich
im städtischen Künstlerhaus stattfindenden Art Moscow
beobachten, der wichtigsten Bestandsaufnahme der aktuellen bildenden
Kunst. Dort nämlich gab es etliche Arbeiten, die auf spielerisch-ironische
Weise mit staatlichen Symbolen umgingen: zum Beispiel mit pseudokommunistisch
überzeichneten Fahnen, auf denen irgendwelche banal-alltägliche
Mitteilungen zelebriert wurden. Und in verwandter Weise verläuft
ja auch immer noch ein Teil des öffentlichen Lebens in Moskau:
Wohl nirgendwo sonst in Europa gibt es einen dem Roten Platz vergleichbaren
Versammlungsort, wo man auch jetzt noch fast allwöchentlich
versprengte Häuflein kommunistischer oder nationalistischer
Demonst-ranten erleben kann, Fahnen schwenkend und Hymnen singend.
Einen ironischen Umgang mit Hymnen erlebte man im Moskauer Musikfestival
auf verschiedene Weise: Zum einen durch eine zeitweise karikierende
szenische Umsetzung von Karlheinz Stockhausens Komposition Hymnen,
die zwar dessen völkerverbindende Dimension nicht unterschlug,
aber zugleich deren implizites Pathos unterhöhlte. Noch spannender
war eine an Charles Ives erinnernde Simultan-Montage von 29 Nationalhymnen,
komponiert von dem 1960 geborenen Russen Sergej Zagny, eine bewusst
groteske Überzeichnung der in Moskau besonders widerspruchsvoll
sich auswirkenden Idee der Globalisierung.