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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 37
50. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Kaleidophon am Fuße des Böhmerwalds
Über ein munter gemischtes Musikfestival in Ulrichsberg
Es war im Jahr 1973, als etwas Seltsames in Ulrichsberg passierte,
im schön-schrulligen Marktflecken im Dreiländereck von
Niederbayern, Oberösterreich und Südböhmen, im Mühlviertel:
Fünf Bluesgangster und Rockn-Roll-Freaks hatten,
nach Jazzworkshops im nahen Burghausen, bei Professor Joe Viera
(4 A) die verheißungsvolle Band Trostlos gegründet,
die sich später Ohara Trost Band nannte. Uli Winter,
Cellist, gehörte zum Kreis der Trostlosen.
Zum zweiten Mal machte er im Rahmen des Kaleidophons
(das zum 16. Mal abgehalten wurde) mit gewagt freigelassener Musik
auf sich aufmerksam. Vor zwei Jahren mit Wuf, heuer
mit Lull. Die Pointen, die bei diesen Bandnamen mitschwingen,
sind durchaus beabsichtigt, denn sowohl Wuf als auch
Lull spielen eine Musik, die an Intensität und
Dichte durchaus mit vergleichbaren Musiken eines Ken Vandermark
oder eines Mark Whitecage mithalten können: Free Jazz,
die Losung des Ornette Coleman Doppelquartetts (Atlantic, 1960),
ist sowohl Imperativ als auch Gattungsname, noch immer ergreifend
aktuell, weswegen jedes Jahr vor Walpurgis ein buntes Jazzfanvolk
ins Mühlviertel pilgert.
Spielte mit dem Aaly-Trio:
Ken Vandermark. Foto: Wolfgang Seemann
Alois Fischer war zwölf, als es losging mit Trostlos,
doch auch sein Herz schlägt im nervösen Puls der befreiten
Jatztrommler. Deswegen lädt er auch immer wieder den Radikalanarchisten
Han Bennink zum Schlussgong: Letztes Jahr jagte er mit dem Instant
Composers Pool des Misha Mengelberg Ellington-Reminiszenzen durch
den Stadel in der Badergasse, dieses Jahr schwang er mit dem Tenoristen
Tobias Delius förmlich durch die Ritzen im Bretterverschlag.
Das macht Spaß und deutlich, dass Free Jazz eben nicht verbiestert
und knöchern zu sein braucht, eben nicht anachronistisch, und
verstaubt schon gar nicht. Dafür sorgt schon allein das Aaly
Trio aus Schweden: Mats Gustafson bläst Kinder-, Schlaf- und
Wiegenlieder mit skandinavisch-schwermütig-fröhlicher
Textur und dekonstruiert diese mit dem hymnischen Gestus eines Albert
Ayler: Das ist, man muss das englisch aussprechen: re-search, ein
ständig in Bewegung befindliches Suchen nach Tiefe, augenfällig
am Fuße des Böhmerwaldes, wo Höhe ganz nah ist.
Gustafson lebt seit einigen Jahren in Chicago, wo er in Ken Vandermark
einen musikalischen Zwillingsbruder getroffen hat. Beide spielen
gemeinsam etwa im Peter Brötzmann Tentett und eben, wie beim
16. Kaleidophon, im Aaly Trio: Da ist wunderbar stimmige, weil so
organisch nachvollziehbare Ergänzung, obschon da zwei befreite
Tenoristen zugange sind. Doch Vandermark agiert amerikanischer,
songhafter; Gustafson, der das ganze Volksliedarchiv im Tornister
hat, dagegen dekonstruktivistischer, schroffer; Vandermark moderiert,
präsentiert, Gustafson macht Er-leben plas-tisch, indem er
mit dem Instrument ringt, um gar in es hinein und durch es hindurch
zu brüllen, ganz im Geiste Tristan Tzsaras.
Ganz anders dagegen die Anwälte eines häufig buddhistisch-motivierten
Reduktionismus, Soundadvokaten, Geräuscholympioniken. Rotophormen
nennen sich Annette Krebs, Gitarre, und Andrea Neumann, Innenklavier:
Sie spielen weniger eine, als viel mehr mit einer Musik, die nicht
mehr ist oder aber: noch nicht ist: Programmatisch kommen Rotorgeräusche,
generiert von Taschenventilatoren, wie sie William Kotzwinkle in
seinem Freakroman Fan man besser nicht hätte beschreiben
können.
Von dieser Sorte Musik war dieses Jahr recht wenig zu vernehmen,
geht es dem Veranstalter Fischer, seiner aktuellen Jungvaterschaft
wegen, schließlich um die ständige Neubesinnung auf den
immer wieder aufs Neue errungenen Anfang, und der liegt, nach Fischers
Ansicht, im Moment der Befreiung, nicht der Kasteiung.
Befreiung kann jedoch gewiss auch statthaben durch Konzentration
auf einen Ton, vorgeführt etwa von Michel Doneda am Sopransaxophon,
oder durch das Pastiche liedhafter Melodiekürzel, vorgestellt
vom Gitarristen Martin Siewert, oder aber, extrem und radikal, als
wall of sound, als Reminiszenz an die 70er-Jahre, an
Emerson, Lake & Palmer oder The Nice, endlich weitergetrieben
und sinnlich zu Ende gespielt vom Steamboat Switzerland.
Das Kaleidophon macht auf diese Weise jedes Jahr aufs Neue die Folie
transparent, auf der improvisierte, komponierte, neue, Alte
Musik mit dem Signet Jazz gegenständlich wird.
Aus diesem Grund ist das Ulrichsberger Kaleidophon ein Seismograf
des Heutigen und gehört zu den wichtigen Aktualitätsbörsen
in Sachen avancierter Musik.