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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 33
50. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Wie klingen Fremdkörper, Hindernisse und Widerstände?
Die Wittener Tage für neue Kammermusik 2001 entdeckten den
Filmkomponisten Morton Feldman
Harry Vogt, Redakteur für Neue Musik beim Westdeutschen Rundfunk
und Leiter der Wittener Tage für neue Kammermusik, drängte
sich im Vorfeld der Programmgestaltung für 2001 eine nicht
ganz uninteressante Frage auf: Häufen sich Kompositionen, in
denen Fremdkörper, Hindernisse und Widerstände bewusst
eingebaut sind? Und das ausgerechnet in der Neuen Musik, einem Genre,
das doch oft genug selbst als Fremdkörper wahrgenommen wird?
Die Wittener Kammermusiktage 2001 versuchten, das Thema mannigfach
zu umkreisen, Perspektiven aufzuzeigen, in neuen und älteren
Werken die weit gespannte Fragestellung zu spiegeln. Gehört
auch die Erinnerung zu den Fremdkörpern, das bewegte
Filmbild? Die Installation oder vielleicht sogar, wie Vogt mutmaßt,
ein Dur-Akkord, eine schlichte Melodie, ein sentimentaler
Klang? in der Neuen Musik durchaus als Fremdkörper
zu erfahren.
Im Zentrum der sechs Wittener Konzert-Programme stand ein Rückblick.
Unbekanntes und wenig Bekanntes von Morton Feldman, das in seinem
Nachlass in der Paul-Sacher-Stiftung in Basel aufgefunden wurde,
darunter eine faszinierende Hommage For Franz Kline,
gesetzt für Horn, Röhrenglocken, Klavier, Sopran, Violine
und Cello. Feldmans Affinität zur Malerei ist bekannt. Anfang
der 50er-Jahre drehte Hans Namuth einen Film über den Action-Maler
Jackson Pollock, zu dem Feldman die Musik für zwei Celli komponierte.
Der Film zeigt, dass Pollocks Spontaneität beim Malen aus einem
fast strengen, ritualisierten Bewegungsablauf erwuchs. Die am Boden
liegende Leinwand wird vom Maler immer wieder umschritten. Feldman
heftete sein Karo-Papier an die Wand, jedes Blatt entsprach einer
identischen Zeitdauer. In dieser Parallelisierung der Zeitverläufe
ähneln sich Mal- und Komponiervorgang. Erstaunlich auch, wie
komponierte Gesten auf Pollocks Mal-Gesten reagieren. Auf den ersten
Hör- wie Augen-Blick würde man nicht vermuten, dass zwischen
Pollocks Malerei und Feldmans Musik eine Korrespondenz bestehen
könnte. Diese liegt in der Struktur des Entstehens gleichsam
verborgen. Namuths Film bringt das eindringlich zur Anschauung.
Die Cellisten Lucas Fels und Thomas Moster vom Freiburger Ensemble
Recherche spielen Feldmans Partitur perfekt auf das bewegte Bild
zu.
Eine ähnliche Raffinesse wie beim Pollock-Film besitzt Feldmans
Musik für Namuths Filmporträt über den Maler Willem
de Kooning (1966). Feldman hat die Musik auch zur freien Aufführung
zugelassen, ein Zeichen ihrer autonomen Qualitäten, die sich
auch bei den Filmmusiken für Samoa (1968)
oder Something Wild In The City zeigt. In einem
Festival für Neue Musik, das in der Regel nur mit Uraufführungen
aufwartet, kann der Rückgriff auf das Große
von gestern zwar nicht unbedingt als Fremdkörper,
aber doch als Widerstand funktionieren: als Maßstab,
an dem sich das Aktuelle zu reiben vermag.
Fremdkörper, Widerstände: Marco Stroppa fügt
in seiner Cantilena für dreifach geteilten gemischten
Chor (WDR Rundfunkchor unter Roland Peelman) zwischen die einzelnen
Cantilenen auf ein Gedicht der Italienerin Amelia Rosselini
exotische Klänge und Gesänge ein, die aber nicht wie Zitate
wirken, vielmehr mit der komplexen Struktur der Komposition eng
verknüpft erscheinen: ein faszinierendes Klang-Ereignis. Im
selben Konzert gab es weitere Uraufführungen von Nadir Vassena
und Johannes Maria Staud. Der 1970 geborene Nadir Vassena
schrieb 5 nodi grotteschi e crudeli für Akkordeon
und Ensemble (Teodoro Anzellotti mit dem Collegium Novum Zürich
unter Jürg Wyttenbach): Der Titel übersetzt: Fünf
groteske und grausame Knoten verweist schon auf einen
eher spielerischen, unterhaltsamen Charakter der Komposition, die
gleichwohl etwas von der Verführbarkeit eines Vexierbildes
besitzt: Wo ist der tiefere Sinn verborgen? Das Stück gefällt
durch seine gelöste Gestik und feine Transparenz im Klanglichen.
Johannes Maria Staud (1974 in Innsbruck geboren) stieß bei
der Suche nach einer für eine Chorkomposition geeigneten Vorlage
auf die visuellen Texte von Heinz Gappmayr. Dessen Verbildlichungen
und Versinnlichungen von Raum-Zeit-Strukturen versucht
Staud musikalisch zu übersetzen, ein nicht unkompliziertes
Verfahren, was sich schon im langen Titel andeutet: der kleinste
abstand zwischen zwei gegenständen komponiert
für sechzehnstimmigen gemischten Chor a capella (auch hier
der WDR Rundfunkchor Köln). Stauds Acht-Minuten-Werk kombiniert
in bemerkenswerter Dichte Geräuschhaftes und klar Artikuliertes,
leitet aus den Worttafeln Gappmayrs eigenständige
kom-positorische Anordnungen ab. Bei aller Komplexität und
Assoziationsvielfalt gewinnt Stauds Chorstück zugleich eine
unmittelbare Ausdruckskraft: Der Fremdkörper der
visuellen Texte wird geradezu geschmeidig von Musik
integriert.
Naturgeräusche und Eisenklang:
Volker Staubs Quartett für Metalltrommeln Nr. 41,
gespielt vom Schlagquartett Köln.
Foto: Charlotte Oswald
Assoziationen an Techniken in der bildenden Kunst erwecken Werke
von Thomas Meadowcroft und Andreas Dohmen. Meadowcrofts Ground
Manual für Flöte, Oboe, Klarinette, Cello, Harmonium/Klavier
und Schlagzeug operiert leicht spekulativ mit den Wortbedeutungen
des Titels: Malen, Manual, Handarbeit. Ein Maler macht sich Notizen
über die Oberflächenbeschaffenheit der Materialien, die
er bearbeitet. Das Verfahren lässt sich entsprechend auf den
Komponiervorgang übertragen. Das Klangergebnis hinterlässt
trotz der vielfältigen Assoziationen einen geschlossenen Eindruck.
Auch Andreas Dohmens Frottages für Ensemble
überzeugt durch die Dichte der komponierten Struktur, in der
verschiedene musikalische Zustände, wie bei der
Frottage-Technik in der Malerei, gleichsam durchgerieben
werden. Was den Wittener Kammermusiktagen sehr gut gelungen ist:
Die Integration der Klanginstallationen und Performances in das
musikalische Konzept. So werden beispielsweise die Klangerzeugungen
von Volker Staubs Witterungsinstrumenten (sie
befinden sich in und an einem Baum hängend im Park vor dem
Haus Witten) dem Quartett für Metalltrommeln Nr. 41
desselben Komponisten zugespielt, das im Haus aufgeführt wird.
Die Simultanität führt zu aparten Klangkorrespondenzen,
zumal das Schlagquartett Köln auf den Metalltrommeln virtuos
zu agieren versteht.
Fadenorganist: Manos Tsangaris
in einer seiner drei Installationen.
In ausgefeilter Balance präsentierten sich auch Drei
Spiele von Manos Tsangaris, ebenfalls im Haus Witten
in drei Räumen aufgebaut. Tsangaris, ein fantasievoller Spieler,
wird nicht müde, immer neue kleine und noch kleinere Klang-Spiel-Aktionen
zu erfinden. Diesmal spielen Fäden eine wichtige Rolle, an
denen der Zuschauer ziehen kann, womit bestimmte klingende, Kugelrollende
und andere Vorgänge ausgelöst werden. Tsangaris verführt
sein Publikum gern zu Ruhe, Besinnung, Konzentration, zum Hinhören
auf feinste Klänge, zu spielerischer Heiterkeit und höherem
Spaß.
Wenn der Begriff Fremdkörper thematisch zum Zentrum
eines Musik-Programms erhoben wird, dann könnte natürlich
schnell Ausuferung drohen: Alles was irgendwie in der Gegend herumsteht,
wird Teil des Programms. Wie der große grünfarbene Container,
der schon vor offiziellem Beginn der Wittener Musiktage unübersehbar
den Platz vor dem Bahnhofsportal dominierte. Der Amerikaner Bruce
Odland und der Österreicher Sam Auinger erkunden
außerhalb des Containers, der den Titel Box 30/70
führt, mittels Mikrofon und Kamera, die sich versteckt in außen
angebrachten Rohren befinden, das urbane Umfeld. Die Geräusche
und Bilder werden dann in die Box übertragen, wo
sie der Besucher verfremdet, umgeformt, in neuen Zusammenhängen
erfahren kann. Die Klang-und Bildzeichen entfalten dabei im dunklen,
nur von einem Bildschirm, winzigen grafischen Anzeigetafeln für
die akustischen Schwingungsverläufe und einem Mini-Fenster
gering erleuchteten Raum eine eigene Stimmung. Man nimmt
die Bilder und Zeichen konzentrierter als normal wahr,
achtet auf Veränderungen und Wiederholungen: Eine Schule auch
des Hörens und Sehens. Die bewusste Wahrnehmung erfordert natürlich
eine längere Verweildauer in der Box, mit einem
schnellen Hineinschauen ist es nicht getan. Die Box-Klanginstallation,
von der singuhr-hörgalerie in parochial und vom
Siemens-Kulturprogramm produziert, wird später auch in anderen
Städten zu besichtigen sein.
Als Fremdkörper bei den diesjährigen Wittener
Musiktagen durfte man, natürlich nur in ironischer Bedeutung,
den Einbruch junger Schweizer Komponisten betrachten:
Mischa Käsers Two Carpets (Flickenteppich)
verweist schon mit dem Titel auf eine locker geknüpfte formale
Anlage. Der zweite Teppich bezieht sich als Teppich der Erinnerung
auf ein Bild Paul Klees, bei dem sich der Komponist neben Sylvia
Nopper und dem Collegium Novum Zürich unter Jürg Wyttenbach
auch als virtuos-komischer Rezitator vorstellte: witzig und auch
ein wenig sehr schweizerisch. Anspruchsvoller und geistvoll-stilisierter
präsentierte sich die sprunghafte erweiterung des wortschatzes
der Schweizerin Annette Schmucki, eine fast equilibristisch ablaufende
Sprach- und Sprechpartitur für Stimme, Posaune, Akkordeon und
Schlagzeug.
Inmitten der Fremdkörper-Komponisten, Widerständler
und Hinderniserfinder fand sich schließlich mit Hans Zender
auch ein Komponist ein, dessen Widerstand schon denkmalsreif sein
könnte, so groß und überdimensional wirkt dieser.
Mit dem Arditti String Quartet und Salome Kammer als Stimme
gab es eine neue Hölderlin-Ersteigung: Mnemosyne
Hölderlin lesen IV für Frauenstimme, Streichquartett,
Textprojektion und Zuspielbänder. Auch Zender erweitert seine
Ausdrucksmittel. Mnemosyne, auf den vollständigen
Text des Gedichts komponiert, fragt mit dem Dichter nach den Zeichen
und den Bedeutungen, welche diese für uns heute haben könnten.
Zenders Komposition, die gegen Ende der Sprechstimme sogar den Gesang
gestattet als Zeichen höchster Intensität des Befragens
, erscheint als grandioser Versuch, die Verschlüsselungen
des Hölderlin-Textes musikalisch zu übersetzen und auszudeuten.
Ist das überhaupt möglich? Fragen, Zweifel bleiben. Gleichwohl:
Hölderlin lesen IV ist ein beeindruckendes Zeugnis
auch für den Widerstand, den Kunst in unserer Zeit
gegen ihre eigenen Tendenzen zu leisten vermag.
Fremdkörper, Widerstände, Hindernisse gehören
auch Erinnerungen bei einem Festival für neue Musik zu den
Störfaktoren? Witten Playback nennt Dieter Kovacic
sein Zwanzig-Minuten-Stück, bei dem er, virtuos wie Rastelli,
mit Vinylschallplatten als Material und Plattenspielern als Instrument
hantiert. Was aber hört man? Musik, Klänge von Werken,
die in den zurückliegenden Jahren in Witten gespielt wurden.
Für seine Rückgriffe ins Schallarchiv der Kammermusiktage
legte sich Dieter Kovacic zugleich einen sinnstiftenden Namen zu:
Dieb. Und weil ein einmaliger Dieb keinen Effekt macht, wird noch
eine Ziffer angefügt: Dieb 13. Dieb Nummer 13 legt
nun nicht einfach nur Schallplatten auf wie ein Discjockey, die
Auflagetechnik selbst avanciert zur Kunst des Komponierens, ebenso
wie die Technik sinnstiftender Assoziationen. Witten Playback
wird zu einer Art Teppich der Erinnerung, nur artistischer
als bei Mischa Käser. Und weil man gerade beim Erinnern ist:
Erinnert wurde in Witten auch an Rebecca Saunders 1999
in Köln uraufgeführtes Stück dichreoic seventeen
für Akkordeon, E-Gitarre, Klavier, zwei Schlagzeuger, Violoncello
und zwei Kontrabässe, ein Werk, das seine Qualitäten aus
der reichen Klang-Farben-Fantasie der Komponistin gewinnt.
Die Stille zählt wohl nicht zu den Störfaktoren
in der Musik, sie ist vielmehr ein konstituierendes Element. Der
Komponist Marc André greift in seinem Stück ...ALS...
ganz tief in die Zeit zurück, in die Offenbarung des Johannes
in der Übersetzung Luthers. Dort wird berichtet, wie beim Auftritt
des Lammes eine Stille im Himmel entstand, die eine
halbe Stunde währte. Diese Stille möchte André
in Musik darstellen, als Instrumentarium diente ihm
ein Trio aus Bassklarinette, Violoncello und Klavier. Es entstand
eine Musik, die auch in den Momenten ihres Erklingens eher einem
unhörbaren Lauschen nach Innen gleicht, verstummenden Klängen
von leiser, intensiver Beredtheit. Nonos Stille scheint
wie von fern auf, aber auch Hans Zenders Hineinhorchen in die Geheimnisse
Hölderlins gleicht dieser Faszination des Leisen. Die Wittener
Kammermusiktage 2001 demonst-rierten nicht nur Fremdkörper,
sie verwiesen auch auf das Existenzielle in der Musik. Das ist in
dieser Zeit vielleicht das Wichtigste, was Musik für Menschen
zu leisten vermag.