RB: Es gibt ja vielleicht ein verwandtes Moment, es gibt ja
Komponisten, die entweder die Musikwissenschaft kreiert hat, konstruiert
hat...
WR: Also Otto Jägermeier...
RB: Nein, nicht Otto Jägermeier. Auch nicht Guglielmo Baldini
oder Ugolino de Maltero. Sondern Perotin.
WR: Ja, das ist ein anderer Fall.
RB: Es gibt die These heute, dass Perotin ein Produkt der Musikwissenschaft
ist, dass es ihn gar nicht in dieser Weise gegeben hat. Und da
gibt es viele gute Gründe, so etwas zu sagen.
WR: Und Leonin?
RB: Sowieso schon gar nicht. Aber Perotin: alle auf ihn weisenden
Quellen sind 100 Jahre und länger nach seinem angenommenen
Leben zu datieren und so weiter.
Ein zweiter Fall, bei dem die Musikwissenschaft zumindest eine
Mitschuld hat, ist Hildegard von Bingen und die Auffassung, in
ihr habe man eine bedeutende mittelalterliche Komponistin. In
Wirklichkeit ist Hildegard von Bingen von Anfang bis Ende eine
Konstruktion. Alle musikalischen Quellen, die wir haben, kommen
aus wesentlich späteren geschichtlichen Zusammenhängen,
da wird eine Hildegard von Bingen behauptet oder es werden ihr
Dinge zugeschrieben, weil sie bereits begann, in anderen Bereichen
berühmt zu werden, und so fort.
WR: Heilende Kräuter im Zusammenhang mit Mönchsgesang,
der urheberrechtlich frei ist. Das sind heutige Motive.
RB: Und da siehst du, wo die Musikwissenschaft jetzt sehr heilsam
wirken könnte.
WR: So etwas zurechtzurücken.
RB: So etwas zurechtzurücken. Das ist ja wirtschaftlich
ein Riesenmarkt, angefangen bei den CDs. Da reisen die Leute zu
Tagungen, zu Hildegard-von-Bingen-Feiern.
Das hängt damit zusammen, dass es natürlich die erste
große Frauenkomponistin wäre, von der wir Musik hätten
aber das, was als Hildegard-von-Bingen-Musik verkauft wird,
das sind Erfindungen unserer Gegenwart. Und sie ist mit Hilfe
der Musikwissenschaft entstanden.
WR: Gut, wir hören das sofort. Aber wenn wir das öffentlich
sagen...
RB: Aber die große Menge hört das nicht.
Qualität wissenschaftlich
WR: Aber gibt es auch Komponisten, die durch die Wissenschaft
ihrer Gegenwart also das kann ja erst in den letzten 150
Jahren geschehen sein eine Stütze oder eine Aufwertung
erfahren haben, der sie durch das Werk selbst nicht gewachsen sein
konnten? Also durch zeitgleiche wissenschaftliche Behauptung und
Unterstützung?
RB: Nicht gewachsen, das ist mir...
WR: Ich meine, wo das Werk nicht selbst die Faszination hatte,
die die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Autor nahe
gelegt hätte.
RB: Ist Schönberg nicht von einer unterschiedlicheren Qualität
als die Wissenschaft es darstellt?
WR: Das ist eine sehr radikale Frage, mich macht jetzt sprachlos,
dass gerade du sie stellst. Ist nicht jeder Komponist von einer
unterschiedlichen Qualität?
RB: Natürlich, aber allein die Art, wie das 3. Streichquartett,
das 4. Streichquartett, überhaupt mehr die späteren
Werke von Schönberg behandelt worden sind nicht bei
Adorno, bei Adorno sieht es anders aus, der ist sehr viel kritischer
, lässt mich doch fragen, ob das angemessen gewesen
ist, ob da nicht ein Teil eines uvres aufgrund ganz bestimmter
anderer Voraussetzungen, weil es ein großes Werk gibt, das
früher da ist, wahrscheinlich das zentralste, was im 20.
Jahrhundert geschrieben worden ist, dass man sich nicht vorstellen
kann, dass es danach vielleicht einen Abfall gegeben hat.
WR: Auch ich weigere mich innerlich, dieses Abfallen zu akzeptieren,
also ein Abfallen überhaupt konstatieren zu wollen. Ich muss
aber ehrlich sagen, dass mich Werke wie das Klavierkonzert natürlich
weniger in Bann schlagen als die Orchesterstücke Opus 16, selbstverständlich.
Allerdings liegt dann wieder das Streichtrio weit oben in meiner
Hörergunst. Weit vor dem 4. Quartett oder dem 3.
RB: Ich habe einmal versucht, es mit den politischen Implikationen
zu erklären, die die späten Stücke haben, dass
es also zwei Bereiche gibt, in denen Schönberg sich ideologisch
bewegt hat. Das eine war der Antinazismus, also Antifaschismus:
die Ode an Napoleon, ganz klar gegen Hitler gerichtet,
dann Survivor from Warsaw, eine darstellende Aufarbeitung
des Holocaust, und so weiter. Und das zweite war sozusagen ein
positiver Beitrag zur jüdischen Musik: Aufbau des Staates
Israel, dafür hat er Stücke geschrieben, Psalmen, späte
Psalmen. Dass also das mehr im Vordergrund stand und dass diese
Art von Orientierung einen anderen Typ von Stücken nach sich
zieht, ein Stück, ja, ein mehr für Öffentlichkeit
gedachtes, mehr für eine breite Wirkung gedachtes, daher
auch mehr plakatives vielleicht. Wenn du die Ode an Napoleon
nimmst, wie da am Ende das Es-Dur hinausgestanzt wird.
WR: Ja. Aber ist es ein Es-Dur, das den Fortschritt zurücknimmt,
oder ist es dramaturgisch ein umgewertetes Affirmationsmerkmal?
RB: Es ist dieser Prozess, würde ich sagen, ich bin dem
Stück sehr viel näher gekommen, weil ich es ediert habe,
das muss ich sagen, aber für mich hat es doch noch immer
ein sehr äußerliches Moment: die Art, wie sich das
Stück entwickelt, wie es im Grunde immer mehr auf dieses
Washington-Motiv hinzielt, das sehr einfach ist. Es ist eigentlich
eine Per-aspera-ad-astra-Struktur, die er schon hinter sich gelassen
hatte, die aber wirksam ist im Zusammenhang mit dem Text, wenn
der Lord Byron nur ein mehr verständliches Poem geschrieben
hätte...
WR: Er konnte ja nicht wissen, dass er vertont wird.
RB: Mit einem politischen Manifest. Dass es da einfach ein Defizit
an Komplexität gibt, während Komplexität dieser
Situation eigentlich mehr angemessen wäre.
WR: Ist Komplexität ein Wert an sich?
RB: Nein, das ist nicht ein Wert an sich. Aber die Wirkungen,
die erzielt werden in der Ode an Napoleon, sind sehr
viel äußerlicher als die, die erzielt werden durch
Erwartung.
WR: Es gibt immer wieder Komponisten, die durch einige Äußerungen
von Autoren, die sehr prominent sind, quasi von der Beschäftigung
ausgeklammert werden. Sibelius ist so ein Fall. Durch die unselige
Glosse Adornos hat sich eine wirkliche kritische Auseinandersetzung
mit Sibelius wissenschaftlich offenbar nicht ereignen können.
RB: Meinst du, dass es Adorno war, ja?
WR: Im deutschen Sprachraum doch sicher.
RB: Wie steht es mit Sibelius im Konzertleben in Deutschland?
WR: Sicher mehr präsent als Adorno lieb wäre.
RB: O.K., aber mehr präsent als Schostakowitsch?
WR: Zur Zeit wohl nicht, aber das wechselt. Vor 20 Jahren war
sicher Sibelius mehr präsent.
RB: Das Violinkonzert wird immer wieder gespielt.
WR: Ja, und es wurde eine Sibelius-Gesellschaft in Deutschland
gegründet, es gibt ein vermehrtes Interesse an ihm. Die alten
Aufnahmen werden jetzt wieder aufgelegt, es gibt Gesamtaufnahmen
von höchster Qualität, etwa die von Barbirolli.
RB: Das ist ja ein gutes Zeichen. Aber das beweist immer noch
nicht, dass es dieses Pamphlet von Adorno war, das jede Beschäftigung
mit ihm verhindert hat.
WR: Es hat sicher die Schwelle, die Angstschwelle von Wissenschaftlern,
sich womöglich am falschen Gegenstand zu versuchen, höher
gelegt. Ich könnte mir vorstellen, dass manchem jüngeren
Wissenschaftler, ganz gleich ob der jetzt mit positiven oder mit
negativen Vorverständnissen an Sibelius hätte herangehen
wollen, der Wind aus den Segeln genommen wurde. Es war doch auch
so, dass wenn man als Komponist den Namen Sibelius in eine Erwägung
einbezogen hat, man damals doch sehr misstrauisch angeschaut wurde.
RB: Zumindest in Deutschland. In England sieht die Situation
anders aus. In England ist faktisch Bruckner in der Situation,
in der Sibelius hier ist.
WR: Ist das so, ja? Ist Bruckner nicht reisefähig?
RB: Nein, nicht sehr.
WR: Nicht sehr. Eher nach Frankreich? Nach Italien nicht, das
weiß ich.
RB: Italien nicht, USA ist auch schwierig, da sind einige Dirigenten,
die Bruckner aufs Programm setzen.
WR: Obwohl schon zu Lebzeiten Bruckners die 7. Symphonie großen
Erfolg in Amerika hatte.
RB: Natürlich, aber es sind einige, die das dirigieren,
neben Dohnányi und Barenboim (der eher aus der europäischen
Perspektive kommt), und jetzt neuerdings Boulez.
WR: Ja, mit der 8. hat er begonnen.
RB: Ja, der in das Repertoire einsteigt und Bruckner auch in
Amerika dirigiert. Aber es sind nicht eigentlich die amerikanischen
Dirigenten, die Bruckner programmieren.
WR: Vielleicht, weil er nicht so einfach mit Filmmusik verwechselt
werden kann wie Mahler. Aber zurück zu Sibelius. Eine ernsthafte
Beschäftigung mit Sibelius gibt es offenbar bei uns nicht.
Mit Bruckner wurde musikwissenschaftlich auf hohem Niveau gearbeitet,
nicht?
RB: Ja, im Moment sehr umstritten, dieses ganze Unternehmen
der so genannten Urfassungen, aber das lassen wir mal.
WR: Aber es ist ein Feld, auf dem sehr viel geschehen ist. Bei
Sibelius praktisch gar nichts, nicht? Es begann vor einiger Zeit,
sich in Frankreich ein Interesse an Sibelius zu regen, unter anderem
ausgelöst durch Harry Halbreich, der in Sibelius einen für
die Moderne, für die zeitgenössische Musik wichtigen Komponisten
entdeckt hat.
RB: Da gibt es ein Problem, das wahrscheinlich eine Rolle gespielt
hat, es wären sonst vielleicht mehr Dissertationen über
Sibelius geschrieben worden, wenn es nicht die Sprachprobleme
gäbe. Ich meine, ich würde nie einen Doktoranden annehmen,
der über Sibelius schreiben will und nicht Finnisch kann.
WR: Obwohl Sibelius wohl schwedisch gesprochen hat.
RB: Dann muss es schwedisch-finnisch sein. Es ist dasselbe mit
Bartók, wer über Bartók arbeiten will, muss
ungarisch können. Und bei Bartók ist mir das ganz
klar, ich kann es bei Sibelius nicht zeigen, weil ich die Sprache
nicht kenne, aber bei Bartók ist es klar, dass bestimmte
Sprachmomente seiner Musik, rhythmisch-metrische Dinge, nur aus
der ungarischen Sprache zu verstehen sind. Und wer das nicht beherrscht,
der kann meines Erachtens über Bartók nicht arbeiten.
WR: Aber gerade diese Sprachmomente, die sicher auch bei Janácek
eine Rolle spielen und die an der Ausprägung von Bartóks
Musik sehr wohl Anteil haben, sind keineswegs dem Verständnis
dieser Musik im Wege gestanden, international.
RB: Nein, für die wissenschaftliche Beschäftigung
ist es unabdingbar.
WR: Ja, das verstehe ich, ja. Trotzdem, die Beschäftigung...
RB: Nochmal zurück zur Glosse über Sibelius
glaubst du, dass das eine Rolle gespielt hat? Natürlich
in vielen Fällen hat Adornos Verdikt eine Rolle gespielt
bei Intellektuellen, bei Anhängern der neuen Musik,
bei der kritischen Zunft vielleicht noch. Aber bei Dirigenten
à la Karajan oder Bernstein? Ob es angesichts solcher Namen
Adorno war ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann.
WR: Wobei erstaunlich ist, wenn man die Äußerungen
von Sibelius selbst nimmt und seine Idee der Sinfonie als eines
sich organisch entfaltenden Ganzen, als eines auf einen Keim zurückführbaren
Ganzen, wenn man sich das vor Augen führt, dann entspricht
das doch viel mehr einer entwickelnden variativen Technik, als Adorno
das zum Beispiel wahrgenommen hat. Das ist ganz erstaunlich. Er
hat wohl die vordergründige thematische Arbeit vermisst, die
aber...
RB: Er hatte immer eine Aversion gegen alles, was nach Folklore
roch.
WR: War es das?
RB: Nach nationalem Ton.
Urteil, Fehlurteil, Revision
WR: Nur noch eine kurze Frage am Schluss. Was geschieht, wenn
das Wissen über eine Musik durch das Erleben eben jener Musik
durchkreuzt wird? Selbst bei dem, der dieses Wissen hervorgefördert
hat, also beim Wissenschaftler? Was geschieht dann? Revidiert er
dann sein Wissen, veröffentlicht er die erfahrene Relativität
all dieser möglichen an die Musik heftbaren oder aus ihr herauslockbaren
Erkenntnisse?
RB: Ich würde sagen, er erfährt dieses Moment und
aufgrund dessen wird er sein...
WR: Verständnis ändern?
RB: Das wäre das, was ich erwarten würde.
WR: Also wird er die Forschung fortsetzen aufgrund dieses Erlebnisses.
RB: Wenn es nicht etwas ist, was in eine ganz andere Richtung
geht. Du sagst jetzt, ein Erlebnis der Musik.
WR: Ja, indem er es hört. Und plötzlich durch das Hören,
ich möchte nicht sagen eines Besseren belehrt wird,
aber doch in eine Situation gebracht wird, die das Vorverständnis,
das Gewusste relativiert.
RB: Es kommt darauf an, erstens was für ein Typ von Wissenschaftler
betroffen ist, ob er sozusagen ein negatives Ergebnis publizieren
würde, falls dieses Erlebnis der Musik zu einer negativen
Einschätzung führt, zu einer Kritik. Und ich würde
das für völlig normal halten und für richtig. Die
andere Möglichkeit ist, dass ein Urteil, das man hat, ins
Positive verkehrt oder bestärkt wird, das ist natürlich
möglich. Und warum sollte dann die Forschung nicht weitergehen?
Dann umso mehr, wahrscheinlich.
WR: Also die plötzliche Erfahrung von Langeweile bei einer
Musik, die vorher als besonders komplex und dicht erlebt wurde,
würde nicht zunächst der Interpretation angelastet?
RB: Ja, natürlich, es wird alle möglichen Gründe
zu untersuchen geben, warum das so ist, aber mir scheint es ein
wenig theoretisch, dass die Erfahrung einer Musik, die einen Menschen
einmal so überzeugt hat, plötzlich in ihr Gegenteil
verkehrt werden könnte.
WR: Ich habe das oft erlebt bei Musik, die ich enorm geliebt habe,
dass ich ihr beim Wiederbegegnen kalt und gelangweilt gegenüberstand;
ich hoffte aber in dem Moment: das wird sich wieder ändern.
RB: Genau, das meine ich. Das liegt aber nicht so sehr an der
Musik, sondern an der momentanen Lage des Hörers und das
ist verständlich. Ich glaube, ich habe das einmal erklärt,
meine Beschäftigung mit Schönberg kommt eigentlich aus
so einem treffenden Erlebnis.
WR: Und trotzdem wird es Aufführungen der Klavierstücke
Opus 11 gegeben haben, die dich ermattet haben.
RB: Na ja, und ab einem gewissen Punkt mochte man auch über
die Stücke nicht mehr reden, weil man zu viel und zu intensiv
an ihnen gearbeitet hatte.
WR: Du verzeihst, dass wir es jetzt doch getan haben.