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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 5
50. Jahrgang | Juni
Feature
Bring er mir Sect, Schurke!
Giuseppe Verdi spricht mit E. T. A. Hoffmann über Falstaff
In der berühmten Berliner Weinstube Lutter & Wegner fand
eine gedenkwürdige, wenn auch unbemerkte Begegnung statt: Der
italienische Komponist Giuseppe Verdi traf dort im Juni 1893, einige
Tage nach erfolgreicher Erstaufführung seiner Oper Falstaff
in Berlin, den deutschen Dichter E.T.A. Hoffmann. Durch eine gezielte
Indiskretion hatte unser Korrespondent Hans-Dieter Grünefeld
davon erfahren und konnte das Gespräch der beiden bedeutenden
Männer, verdeckt hinter einer Trennwand sitzend, belauschen
und protokollieren.
E.T.A.: Nun haben Sie Ihren Kuraufenthalt in Montecatini
Terme unterbrochen, um sich hier mit mir beinahe konspirativ zu
treffen. Warum?
Verdi: Hm, das ist eine Privatangelegenheit, die niemanden
etwas angeht. Doch zunächst möchte ich Ihnen danken,
dass Sie meine Einladung zu diesem Gespräch umstandslos angenommen
haben. Um auf Ihre Frage einzugehen: Es hat mich durchaus sehr
überrascht, dass meine in italienischer Sprache aufgeführte
Oper Falstaff gerade in Berlin so große Begeisterung
ausgelöst hat. Aber ich stelle fest, dass der Gasthof Zum
Hosenbund aus der Oper eine ähnliche Atmosphäre hat
wie die Weinstube Lutter & Wegner, in der wir jetzt sitzen.
Auch habe ich von Ihrem Freund, dem populären FalstaffDarsteller
wie heißt er noch? gehört. Können
Sie mir über ihn etwas erzählen?
E.T.A: Ah, von daher weht der Wind. Hätte nicht gedacht,
dass Sie sich für Ludwig Devrient interessieren. Wir waren
enge Freunde, sogar Nachbarn im selben Haus gleich um die Ecke und
haben hier fast jeden Abend zusammen gesessen und Schaumwein getrunken.
Er ist übrigens schon lange tot. Als er noch lebte, war er
allerdings einer der bestbezahlten Schauspieler in Berlin. Ludwig
Devrient war ein leidenschaftlicher Darsteller. ,Es ist ihm ernst
um die Kunst, und daher rührt der unverdrossene Fleiß,
mit dem er die Rollen nicht sowohl einstudiert als in sein Innerstes
aufnimmt. Seine unvergleichliche Mimik hat mich zu zahlreichen
Figuren meiner Erzählungen und Zeichnungen angeregt. Rahel
Varnhagen war entzückt von seinem Können: ,Ein Maler gehört
dazu, dies aufzufassen, bis in die Haltung der Finger, wie ein Shakespearscher.
Der Falstaff aus Shakespeares Stück Heinrich IV.
war denn auch eine seiner Paraderollen. Und da das Theater direkt
nebenan ist, hat er oft in der Weinstube gleich weitergespielt.
Seine grandiosen Auftritte bewirkten, dass Lutter & Wegner ein
viel besuchtes Lokal wurde. Einmal kam er nach einer Vorstellung
hereingestürzt und rief, noch ganz Falstaff: Bring er
mir Sect, Schurke! Bei Shakespeare heißt es sack
für Sherry, doch Devrient sprach es Sekt aus, und
so hat Sekt später das Wort Schaumwein ersetzt,
weil der Kellner für Devrient das Übliche brachte, und
das war Schaumwein. Davon trank er enorme Mengen, viel mehr als
ich, nämlich bis zu sechs Flaschen pro Tag. Devrient verkörperte
nicht nur den Falstaff, er selbst war ein Berliner Falstaff. Jedenfalls
hatte er im gleichen Maße ruinöse Schulden wie sein Bühnenpendant.
Doch Devrient ließ ohne schlechtes Gewissen anschreiben. Als
Herr Lutter schließlich ungeduldig wurde und ihm eines Tages
die unbezahlten Rechnungen präsentierte, boykottierten wir
eine Zeit lang die Weinstube. Das Publikum blieb aus, und so erließ
der Wirt schließlich die Schulden und bat uns, doch wieder
seine Gäste zu sein.
Verdi: Eine sehr bemerkenswerte Geschichte, die Sie mir
soeben erzählt haben, mein lieber Herr Hoffmann. Doch mir
kommt es so vor, als ob Ihr Freund den Falstaff lediglich als
vulgären Menschen auffasste. Was er in der Tat bei Shakespeare
auch ist, übrigens ,einer meiner Lieblingsdichter, den ich
von frühester Jugend an gelesen habe, den ich ununterbrochen
lese und wieder lese. In den Lustigen Weibern von
Windsor sind aber auch andere Charakterzüge zu entdecken:
,Falstaff ist ein böser Geselle, der schlimme Streiche vollführt,
aber unter einer belustigenden Form. Er ist ein Typus. Sie sind
so selten, die Typen. Falstaff, ziehe deinen Weg, solange du kannst.
Lustiger, ewig wahrer Schurke unter verschiedenen Masken, zu allen
Zeiten, an allen Orten! Mein Freund Arrigo Boito stimmte
mit mir überein, dass ein moderner Falstaff subtiler gestaltet
werden musste. Und so hat er in seinem Libretto beide schon erwähnten
Shakespeare-Dramen verarbeitet.
Unsere Commedia lirica in tre atti sollte dem Dichterfürsten
würdig, ja ebenbürtig sein. Und Boito hat eine geniale
Synthese dieser Texte verfasst. Daraus ist entsprechend meinen
Absichten eine Charakterkomödie geworden. Niemand hat mir
zugetraut, in meinem Alter noch eine komische Oper schreiben zu
können. Niemand, außer Boito, der mich ständig
angetrieben und motiviert hat. Und er hat mir das schriftliche
Kompliment gemacht: ,Sie besitzen das Geheimnis der rechten Note
im rechten Moment, was das große Geheimnis der Kunst und
des Lebens ist. Der englische Kritiker Anthony Asquith meinte
sogar: ,Es ist, als höre man die Obertöne Shakespeares.
Na ja, zuviel Lob stinkt, aber ich habe am Falstaff
so lange wie an keiner anderen Oper zuvor gearbeitet, länger
als zwei Jahre. Auf die Partitur habe ich größte Sorgfalt
verwendet und mit Boito viele Details diskutiert.
E.T.A.: Sie sprechen so begeistert über den Falstaff,
als ob dieser ein Alter Ego wäre, so wie ja auch der Kapellmeister
Kreisler in meinen Romanen etwas autobiografisch ist.
Verdi: Jetzt werden Sie nicht unverschämt. Habe ich
etwa einen Schmerbauch wie Falstaff? Hat man Ihnen kolporiert,
ich hätte Frauen anderer Männer nachgestellt oder meinen
Vorteil mit Intrigen gesucht?
Ich will mich nicht aufregen. Denn in der Tat hat in meinem Hause
einige Zeit der Impresario Mauro Corticelli gelebt, ein Schürzenjäger
ohnegleichen. Als er dann einem Dienstmädchen nachstellte,
habe ich ihn rausgeworfen. Trotzdem haben wir viel über ihn
gelacht, denn er war ein lustiger Geselle wie Falstaff. Mir gefällt
insbesondere der Satz am Schluss der Oper, wenn Falstaff sagt:
Die Sorte Dutzendmensch mag mich verlachen und auch noch
stolz drauf sein. Doch ohne mich fehlte es ihr bei allem Hochmut
an jedem Körnchen Witz. Dieser gelassene Individualismus
ist auch meiner.
E.T.A.: Devrient und ich hatten für viele heitere Abende
hier gesorgt, wir unterhielten die Gäste er, indem er
komische Szenen aus diversen Stücken spielte, ich, indem ich
Humoresken erzählte oder mich zusammen mit ihm ,montierte.
Maskeraden und Verwandlungen der Persönlichkeit waren unser
gemeinsames Faible. Doch Ihr Falstaff ist offenbar noch
anderweitig interessant.
Verdi: Sicher, denn es ist eine lyrische Charakterkomödie
und damit ein Drama in Musik kein Melodrama! Meine Oper
erweist ihre Reverenz den Werken Monteverdis und Mozarts, Komponisten,
die ich schätze. Denn sie ordnen, wie ich, den Gesang oder
die Melodie dem Text zu. Neu ist allerdings, dass ich, übrigens
wie beim Othello, ohne Ouvertüre direkt mit dem
Auftritt des dicken Falstaff beginne. So turbulent die Handlung
ist, so turbulent ist auch die Musik, mit manchen harmonischen
Raffinessen. Mir ist völlig unbegreiflich, dass man mir deswegen
vorwirft, ich hätte Richard Wagner nachgeahmt. Dessen Gedankenschwere
und vor allem seine Leitmotive sagen mir gar nicht zu.
E.T.A.: Diese Missverständnisse sind mir bekannt.
Jacques Offenbach hat in seinem Werk Hoffmanns Erzählungen,
auch eine opera comique, mich nicht so wie ich bin dargestellt.
Gerade weil die Handlung hier bei Lutter & Wegner spielt, ich
mich hier zu den Erzählungen inspirieren ließ, erscheint
die Weinstube als Musenhof. Was er, bei aller Sympathie für
die anregende Atmosphäre, in der Tat nicht war. Auch kommt
es mir vor, dass Offenbach und seine Librettisten Jules Barbier
und Michel Carré aus mir einen doppelgesichtigen Helden gemacht
haben: Einerseits bin ich der reale Erzähler sowohl
im Prolog als auch im Epilog, andererseits der vermeintlich autobiografische
Held meiner Erzählungen. Ich fühle mich wie eine Parodie
meiner selbst. Aber genug davon.
Verdi: Ja, beenden wir unsere Unterhaltung und wenden
wir uns dem vorzüglichen Sekt zu. Falstaff hätte seine
Freude daran gehabt.
Giuseppe
Verdi (18131901) und E.T.A. Hoffmann (17761822) hätten
sich selbstverständlich schon aufgrund ihrer weit voneinander
entfernten Lebensdaten niemals begegnen können. Ihr Gespräch
ist also imaginär und frei von chronlogischen Zwängen.
In dieser erfundenen Situation stellt es ideelle Verbindungen her,
die sonst verborgen geblieben wären. Die Weinstube Lutter &
Wegner, in der sich E.T.A. Hoffmann und sein Freund Ludwig Devrient
(17841832) regelmäßig trafen, gab und gibt es tatsächlich.
Zitate aus Briefen und anderen historischen Dokumenten stehen
in einfachen Anführungszeichen.
Hans-Dieter Grünefeld
Gewaltige
Leichtigkeit
Giuseppe Verdi: Falstaff; Monteverdi Choir/Orchestre Révolutionnaire
et Romantique, Leitung: John Eliot Gardiner
Philips 462 603-2, Universal
Er kann verlieren, und zwar mit Humor. Falstaff ist
ein durchtriebener, aber durchaus sympathischer Charakter. Verdis
letzte Oper kokettiert damit, selbst einem anachronistischen Schurken
wie Falstaff eine Chance zu geben, besser: den Saft aus
der enormen Shakespeare-Orange zu pressen, ohne die nutzlosen
Kerne in das Glas gleiten zu lassen, wie der Librettist
Boito die sehr anspruchsvolle Aufgabe für Verdi bezeichnete.
Weiter: Das alles ist sehr, sehr schwer, und es muss sehr,
sehr leicht erscheinen. Wie ist ein Schmerbauch auf Trab
zu bringen? Indem eine Inszenierung sorgfältigst vorbereitet
wird, und das hat John E. Gardiner getan. Er besetzte die Gesangsparts
optimal und platzierte das Orchester in die Mitte der Bühne
beide Elemente sind gleichwertig. Und Gardiner hat auf
alle Feinheiten der Artikulation geachtet und jene Leichtigkeit
erreicht, die Boito meint. Verdi Falstaff Gardiner
bilden eine in sich vollkommene Einheit. Superb.