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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 9
50. Jahrgang | Juni
Kulturpolitik
Jugend musiziert und die Würde des Menschen
Die komplexe Psychologie des Beratungsgespräches ·
Von Gerhard Mantel
Musik: Geschenk, Bereicherung, Freude, Therapie, freundschaftliche
Bindungen, Zusammenspiel, soziale Kontakte, Ganzheit von Denken,
Handeln und Fühlen. Musizieren, die schönste
mitmenschliche Tätigkeit, sich ohne Worte frei ausdrücken
und mitteilen dürfen, sich über Erfolgserlebnisse freuen,
Selbstbewusstseins-Schübe beim Wahrnehmen des eigenen Fortschritts
erfahren, Anerkennung auch durch die anderen erhalten. Und dann
auch noch Jugend: Lebensfrühling, Hoffnung, unbegrenzte
Möglichkeiten, Lernen als Lustgewinn. Beides zusammen: Jugend
musiziert dem Erfinder allein dieses Begriffes gebührt
schon ein großes Verdienstkreuz. Gibt es etwas Schöneres,
etwas für den Einzelnen und die Gesellschaft Beglückenderes?
M an würde so gerne mit nein antworten, wenn da
nicht in der praktischen Umsetzung so viele organisatorische und
menschliche Unwägbarkeiten lauerten. Unwägbarkeiten
Musik ist ja eigentlich nur qualitativ erfahrbar und wägbar.
In der Praxis von Jugend musiziert schleicht sich jedoch
die unheimliche Notwendigkeit einer terrible simplification
ein: Ein vieldimensionales Geflecht aus Qualitäten, gespiegelt
im Kaleidoskop der Meinungen von höchst unterschiedlichen Juroren,
muss in das Prokrustesbett einer eindimensionalen Skala von Quantität,
sogar in eine scheinbar verbindliche, objektive Quantität gepresst
werden, von Quantität mit einer Punktzahl und womöglich
mit einer Stelle hinter dem Komma.
Dieser prinzipielle wohl letztlich unvermeidliche
Sündenfall öffnet nun die Tore für die grundsätzlichen
Probleme menschlicher Urteilsfindung. Schon bei der Auswahl der
Juroren wird ja eine Vorentscheidung über Erfolg oder Misserfolg
eines jeden jungen Teilnehmers getroffen. Welcher Schule
gehört der Juror an? Kennt der Auswählende den Juror?
Wer hat ihn ihm empfohlen? Wie ist der methodische und pädagogische
Kenntnisstand des Jurors? Hat er Erfahrung auf diesem Gebiet? Ist
es vielleicht der ihm zufallende vorübergehende Machtzuwachs,
der ihm diese Aufgabe attraktiv erscheinen lässt? Hat er sich,
wenn auch nur rudimentär, jemals mit Beurteilungspsychologie
befasst (In jedes Urteil fließen in hohem Masse Informationen
über den Urteilenden ein!)? Wie verhält er sich in einer
Gruppe? Schließt er sich lieber dem Urteil einer vermuteten
Autorität an oder hat er einen eigenen Standpunkt? Ist dieser
Standpunkt rigide oder tolerant? Fühlt er sich wohler als Wortführer
oder als Mitläufer?
Nicht nur der Teilnehmer, sondern auch der Juror befindet sich
bei einem Wettbewerb in einer Ausnahmesituation. Er sieht sich konfrontiert
mit einem jungen Menschen, von dem er überhaupt nichts kennt,
nicht seine Motivationslage, nicht sein Elternhaus, nicht seinen
Lehrer, nicht seine Anstrengung, nicht seine Hoffnungen und Wünsche,
nicht seine Frustrationstoleranz, nicht sein Lampenfieber, nicht
seine Lernkurve, nicht seine Lernphase, nicht seine Lernvergangenheit.
Und doch ist er jetzt gehalten, ein Urteil zu fällen, das so
tut, als sei es objektiv, und das durchaus massiv in das Leben des
jungen Teilnehmers beziehungsweise der jungen Teilnehmerin eingreifen
kann.
Probleme der Jury
Von mehreren Seiten lauern Gefahren für die Objektivität
eines solchen Urteils, gar eines künstlerischen:
Zunächst kann niemand außerhalb seiner Subjektivität
objektiv sein, schon gar nicht in einer so komplexen Materie wie
der Beurteilung von Kunst. Paradoxerweise ist im Gefüge einer
Jury die Wahrscheinlichkeit eines objektiven Gruppen-Urteils,
wenn man die Fiktion von Objektivität vorübergehend
anerkennen will, dann am größten, wenn jeder einzelne
Juror vollkommen unabhängig, also vollkommen subjektiv urteilt.
Beim Versuch, objektiv zu sein, lauert eine weitere Gefahr:
Ein Juror fühlt sich dann am wohlsten, wenn sein Urteil,
als Punktzahl, in der Mitte aller Urteile liegt. Er meint dann,
er sei besonders objektiv gewesen. Zu diesem Standpunkt kann er
logischerweise nur kommen, wenn er die Meinung aller anderen,
zumindest deren Durchschnitt, als verbindlich anerkennt, sich
also letzten Endes der Meinung seiner Mit-Juroren unterwirft.
Um objektiv zu sein, wird er also alle erreichbaren
Informationen im Prozess der Punktgebung einsammeln, um diesen
eigenen Urteilserfolg, den des richtig gefundenen
Durchschnitts, zu erzielen.
Nun bildet sich aber in einer Gruppe eine interne Gruppendynamik
heraus. Meistens kristallisiert sich ein opinion leader
heraus, eine Person, die mit einem Anspruch von Unfehlbarkeit
eine Schwelle aufbaut. Die anderen sehen sich jetzt in einer schwierigen
Situation: Entweder sie haben sich noch gar keine feste Meinung
gebildet oder sie sind anderer Meinung. Wenn sie anderer Meinung
sind, entsteht für sie unausweichlich die Frage, ob sie dem
opinion leader widersprechen sollen, was nach dessen
so demonstrativ sicherem Urteil natürlich einen Vorwurf an
ihn darstellt. Da er für sich selbst keinerlei Gewinn aus
einer unangenehmen, zeitraubenden Auseinandersetzung ziehen kann,
wird er in vielen Fällen auf einen Kampf verzichten.
Bisher sind wir von einem Juror ausgegangen, der angst- und
neidfrei sich um ein Urteil bemüht. Schön wäre
es! Denn an dieser Stelle geht die Psychologie des Urteilens erst
so richtig in die Tiefe: Jedes Urteil eines Jurors ist zu einem
ansehnlichen Teil ein Vergleich zwischen dem Kandidaten und sich
selbst. Selbst wenn man, statistisch gesehen, bei Jugend
musiziert von einem Könnens-Gefälle
zwischen Jury und Kandidat ausgehen kann, so bleiben doch unbewusste
Reaktionen, die das objektivste Urteil massiv beeinflussen
können, etwa: Konnte ich dieses Stück damals, in diesem
Alter, so gut spielen? Kann ich heute noch so schnell spielen
wie dieser junge Kandidat? Ist es gerecht, dass ein so hübsches
Mädchen auch noch viel besser spielt, als ich das damals
konnte? (Erotische Momente spielen immer auch eine Rolle und können
Urteile nach beiden Seiten verschieben.) Wieso trifft er diesen
Oktavsprung so gut, der mir so oft misslingt? Und insbesondere:
Gönne ich dem Kollegen diesen Schüler? Da diese Überlegungen
sich weitgehend unterbewusst abspielen, kann ein Juror immer noch
das beste Gewissen dabei behalten!
Eine spezifische Form dieses unterschwelligen, niemals eingestandenen
Neids entsteht durch die künstlerische Ausstrahlung eines
jungen Menschen: Kann ich ein Publikum so absichtslos
faszinieren wie diese junge Künstlerin, dieser junge Künstler?
Oder kriecht die Angst in mir hoch, dass ich es nicht (mehr?)
kann? Habe ich überhaupt Gelegenheit dazu? Wäre mir
der Applaus sicher, der diesem jungen Menschen entgegenbraust?
Traurigerweise wird nun dieser Neid in vielen Fällen an
einer grundsätzlichen Dimension menschlichen Verhaltens festgemacht:
Emotionale Ausstrahlung hat in ganz hohem Ma-ße mit Körperbewegung
zu tun, ganz besonders bei jungen Menschen. Ein Kind lernt Musik
(und nicht nur Musik!) überhaupt zunächst in erster
Linie über den Kanal der Bewegung und der Bewegungsempfindung.
Es ist ganz schlimm, dass in der lnstrumentalpädagogik der
Begriff der Bewegungsökonomie noch immer eine
so fatale Rolle spielt, im Sinne von je weniger Bewegung,
desto besser. Dass Emotion nur über Muskulatur, also
über Spannungsverläufe und Bewegungen ihre Ausprägung
erfährt, hat sich leider immer noch nicht bei allen Musikpädagogen
herumgesprochen, obwohl es in der physiologischen und psychologischen
Fachwelt längst eine Trivialität ist. Die reine Lehre
der Bewegungsökonomie basiert auf einem Menschenbild, das
auf einen Roboter anwendbar ist. Für den Menschen zutreffend
wäre die Frage: Wieso trifft ein meisterlicher Basketballspieler
sogar im Sprung noch den Korb? Fast immer wird in diesem Zusammenhang
Haltung mit Bewegung verwechselt: Spiel, Emotion, Ausdruck, Technik
alles ist doch Bewegung! Überspitzt: Die richtige
Haltung ist schon die falsche Haltung!
Verteidigungsstrategien treten nun bei unserem (zugegebenermaßen
stark stilisierten!) Juror auf den Plan. Er denkt: Ich habe doch
damals gelernt, dass man mit dieser Armhaltung nicht spielen darf!
Ich weiß doch, was man darf und was nicht! Im Folgenden
kann der Leser nun beliebig eine dieser von Spieler zu Spieler
unterschiedlichen Richtigkeiten ankreuzen: Der Arm
muss am Körper bleiben, der Arm muss vom Körper weg-
gehalten werden, er muss hoch, er muss tief gehalten werden, die
Finger müssen flach, sie müssen rund aufgesetzt werden,
das Handgelenk muss hoch, muss tief gehalten et cetera. Diese
Beispiele lassen sich ad infinitum fortführen, und für
jedes Beispiel findet sich ein prominenter Vertreter.
Eine der schlimmsten (Vor-)Urteils-Einstellungen, die leider
unausrottbar erscheint, ist diese Fixierung auf ein Richtig-Falsch-Ergebnis,
das jeden individuellen künstlerischen Ausdruck unterspült.
Man kann diese Geisteshaltung fast als Richtig-Falsch-Syndrom,
als Krankheit, bezeichnen. Eine unzählige Male zu hörende
Hilfs-Floskel ist dann: So kann man doch keinen Mozart spielen!
Wer ist man? Der Durchschnitt. In den Sinn kommt einem das Porträt,
das entsteht, wenn man viele Gesichter so übereinander kopiert,
dass am Schluss ein zwar richtiges, aber völlig
langweiliges, ausdrucksloses, beliebiges, Gesicht entsteht.
Originalität, gerade wenn sie sich noch in einem Entwicklungsstadium
befindet wie bei Jugend musiziert, hat es da schwer.
Die Mutigen, die ein Risiko eingehen, haben eben Pech gehabt,
sie sind unter diesen Umständen eben leider selbst schuld!
Das Bedürfnis des Jurors nach Sicherheit führt dazu,
dass als Ergebnis aller dieser unbewusst ablaufenden Prozesse
eine Konvergenz hin zum Akademismus entsteht, zu einer befreienden
Mittelmäßigkeit, die niemanden stört.
Das Beratungsgespräch
Diese vielschichtigen Mechanismen führen nun zu einer Punktzahl,
die ein Kandidat seinerseits irgendwie verarbeiten muss. Er ist
wahrscheinlich enttäuscht, sieht aber letzten Endes ein, dass
ja irgendeine Rangfolge entstehen muss, bei der er aus der Sicht
der Jury mehr oder weniger gerecht beurteilt wurde. Es steht ihm
frei, dieses Urteil als gerecht anzuerkennen oder nicht. Unterstellen
wir, dass er trotz dieser Erfahrungen mit Jugend musiziert
als Jugend weitermusiziert! Nun kommt aber das Beratungsgespräch.
Dies ist eine an sich hochlöbliche Einrichtung, die einem Teilnehmer
die Möglichkeit bringt, wichtige Informationen zu bekommen,
vielleicht sogar Ermunterung, Motivation und sachliche, hilfreiche,
aufbauende Kritik. Ein solches Gespräch kann sogar den Jurymitgliedern
Gelegenheit geben, sich als freundliche, wohlwollende Mitmusiker
darzustellen. Nun haben sich aber mit der festgesetzten Punktzahl
auch diese Mechanismen inklusive aller Verteidigungsstrategien jedes
einzelnen Jury-Mitglieds ebenfalls festgesetzt.
Die beste Verteidigung ist bekanntlich der Angriff. Dies ist meist
die Stunde des opinion leaders. Er weiß, wie der
Kandidat hätte spielen sollen, er kann aus dem Vollen schöpfen
und jegliche Art von Kritik aussprechen. Da kommen dann zum Beispiel
in Unkenntnis von psychologischen und physiologischen Zusammenhängen
bei einer hochmotivierten, vitalen Spielerin solche Sprüche
heraus wie: Du bewegst dich zuviel! oder Der Beethoven
war ganz schlecht. Selbst von Bemerkungen, die schon als Übergriffe
auf die Würde des Menschen einzustufen sind, wie Du bist
zu arrogant, hat man bei 13-Jährigen schon gehört.
Solche Beratungen werden oft noch mit Sarkasmus und
Ironie gewürzt.
Daraus erwächst natürlich folgerichtig die Empfehlung,
unbedingt den Lehrer zu wechseln, einer der Kulminationsmomente
des Machtgefühls. Ich weiß zwar weder über
dich noch über deinen Lehrer irgendetwas, aber ich bin auf
jeden Fall besser als er! In den Fällen, in denen
eine solche Empfehlung sachlich gerechtfertigt, klar definierbar
und im Detail begründbar erscheint, müsste einem Juror
ausnahmslos zur obligatorischen Auflage gemacht werden, mit dem
Lehrer Kontakt aufzunehmen.
Ein weiterer Vorschlag sei hier angefügt: Die Kriterien,
nach denen geurteilt wird, müssten viel transparenter und auch
aufgeschlüsselter sein. Dies würde manchen Juror zwingen,
Faktoren, angefangen bei der technischen Sicherheit, dann rhythmische
Präg-nanz, klangliche Differenzierung, stilistisches und strukturelles
Verständnis, musikalische Charakterisierung, Ausdrucksintensität,
kammermusikalisches Einfühlungsvermögen, nur um ein paar
durchaus trennbare Kriterien zu nennen, einzeln zur Kenntnis zu
nehmen und zu gewichten, statt alle diese musikalischen Parameter
auf dem Altar der richtigen Haltung zu opfern. Die Originalität
einer künstlerischen Darstellung könnte dann nie als Angriff
auf das Selbstbild des Jurors, sondern als eigenständige und
interessante Eigenschaft unter anderen Eigenschaften auf der Haben-Seite
des Teilnehmers gesehen werden.
Der Schüler, der vielleicht mit seinem Lehrer über Jahre
hinweg ein hochmotivierendes Vertrauensverhältnis aufgebaut
hat, stürzt jetzt in tiefe Konflikte. Das Vertrauen ist erschüttert,
die Motivation zerstört. Ein junger Mensch billigt angesichts
der Wettbewerbssituation einem Juror durchaus Autorität zu.
In der hochemotionalisierten Situation und mangels ausgereifter
zur Verfügung stehender Kriterien wird ihm nun mit dem Rat,
den Lehrer zu wechseln, suggeriert, dass Jahre seines Lebens, das
er vielleicht wirklich der Musik widmen wollte, vergeudet waren.
Dieses Risiko und diesen Stress wollen viele Eltern ihren Kindern
inzwischen ersparen, wie aus vielen Gesprächen hervorgeht.
Und mancher Lehrer rät dem Schüler von der Teilnahme ab,
weil er nicht möchte, dass eine auf Jahre angelegte Aufbauarbeit
durch ein paar flapsige Bemerkungen seitens eines Jurors gefährdet
wird.
Jugend musiziert hat eine Doppelfunktion: Einerseits
soll es in die Breite wirken, Freude am Musizieren wecken und fördern,
andererseits aber auch Talente aussuchen und massiv fördern.
Auf der Regional-Ebene wird wohl ersteres im Vordergrund stehen,
auf der Landes- und Bundesebene eher letzteres. Aus Unsicherheit
seitens der Jury wird oft auch bei Spitzenbegabungen, die
vielleicht nach Ansicht eines opinion leaders den
Arm falsch halten unverhohlen argumentiert: Was würde
die nächsthöhere Jury von mir als Kollegen denken, wenn
wir diesen Teilnehmer weiterleiten!
Diese vielleicht etwas überpointiert erscheinenden Gedanken
zur Jury-Psychologie mögen als Plädoyer verstanden werden,
und zwar für eine menschlichere Beurteilung und Rückmeldung
im Hinblick auf jahrelange Bemühungen junger Menschen. Der
Autor steht dem Prinzip von Jugend musiziert außerordentlich
positiv gegenüber, gerade in seiner Doppelaufgabe, das Musizieren
in der Spitze und in der Breite zu fördern. Jugend musiziert
darf sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, womöglich einerseits
auf der Ebene der Breitenförderung zu versäumen, die Freude
am Musizieren durch maximale Motivation zu fördern und andererseits
als Verhinderungsinstitution für Hochbegabungen zu erscheinen.