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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 11
50. Jahrgang | Juni
Kulturpolitik
Musik nicht Sättigungsbeilage, sondern Hauptgericht
Podium beim VdM-Kongress in Leipzig: Innenminister Otto Schily
über die Funktion kultureller Bildung
Otto Schilys viel zitierten Satz Wer Musikschulen schließt,
gefährdet die innere Sicherheit hatte der VdM zum Anlass
genommen, den Bundesinnenminister zum Musikschulkongress einzuladen,
und unter diesem Motto stand auch sein Vortrag mit anschließender
Diskussion, dem die 1.100 Teilnehmer und zahreiche Pressevertreter
im Kongresszentrum Leipzig gespannt folgten. In seiner Rede betonte
Schily nicht nur die Bedeutung der Musikschulen und anderer Einrichtungen,
sondern vertiefte seine These mit dem Verweis auf die Bedeutung
ästhetischer und kultureller Bildung: Wir brauchen eine
ästhetische Erziehung und dazu gehört sehr wesentlich
auch die musikalische Bildung. Wer musiziert, fördert den Sinn
für Rhythmus und Melodie und das Gespür auch für
den anderen. Wer musiziert, lernt, gegenseitig Rücksicht zu
nehmen. Und wir müssen den Kindern auf diese Weise die Möglichkeit
verschaffen, selbst Gehör und Resonanz zu finden. (...) Musikerziehung
hat einen wesentlichen Anteil an der Ausbildung eines ausgeglichenen,
kreativen, intelligenten und zu Sozialverhalten fähigen Menschen.
(...) Intelligenter Musikunterricht kann helfen, dem Anpassungsdruck
an gewaltbereite Gruppierungen zu entgehen, da musizierende Kinder
die eigenen Talente entdecken und ihren individuellen Wert im gemeinsamen
schöpferischen Prozess wahrnehmen. Seine Forderung, Musik
dürfe nicht nur als Sättigungsbeilage dienen,
sondern gehöre in das Zentrum der Erziehung, griff
VdM-Vorsitzender Gerd Eicker zu Beginn der Diskussion auf, die wir
in Auszügen dokumentieren. Mit auf dem Podium saßen neben
Schily und Eicker der Vizepräsident des Ver.di-Gewerkschaftsrates
Eckhard Kussinger, der Leiter der Musikschule Tirschenreuth Maximilian
Schnurrer sowie nmz-Herausgeber und Chefredakteur Theo Geißler.
Gerd Eicker: Was können wir tun, damit Musik in das
Zentrum der Erziehung rückt?
Otto Schily: Ich bin ja hier zu Gast als Innenminister,
dem die Kulturabteilung abhanden gekommen ist, und kann also nur
insofern dazu beisteuern, dass ich versuche, in meiner Verantwortung
auf die Bedeutung der Musik hinzuweisen. Das ist, wenn Sie so
wollen, ein informeller Beitrag zur Kulturdebatte und es liegt
in der Verantwortung derjenigen, die in den Ländern, in den
Kommunen zuständig sind für die Musikerziehung und die
Erziehung im Allgemeinen, der Musikerziehung im Unterrichtsprogramm
den Rang einzuräumen, den sie braucht. Wir müssen eben
sehen, dass wir viele gesellschaftliche Kräfte hinter die
Forderung bringen, dass die Musikerziehung einen größeren
Stellenwert erhält in dem Erziehungsprogramm an den Grundschulen
und an den weiterführenden Schulen, das ist die schlichte
Antwort.
Theo Geißler: Wenn man sich unsere Bildungslandschaft
ansieht und ein bisschen vergleicht mit dem europäischen Ausland,
dann wird man feststellen: Deutschland ist entweder schon wieder
oder noch ein Entwicklungsland. Wir wollen, was das Geld betrifft,
gar nicht anfangen zu jammern, aber es ist doch eine Frage der Verteilungen,
der Schwerpunktsetzungen. Und ich glaube, da gäbe es einiges
zu tun politisch.
Schily: Ich glaube, dass wir ein völlig falsches
Verständnis haben, was Inves-titionen und was Kosten sind.
Erziehung ist die beste Investition, die wir überhaupt machen
können, und Musikerziehung gehört auch dazu und deshalb
müssen wir mit den Begriffen anders umgehen, als das bisher
der Fall war. Wenn wir etwa über Krimi- nalprävention
sprechen, dann muss auch von der vierten Dimension der Prävention
die Rede sein, das ist die kulturelle Prävention. Und die
ist vielleicht die allerwichtigste.
Eckhard Kussinger: Die Frage ist, ob man denn bei der Kultur
nicht auch so einen Schritt gehen muss, wie man den im Schulwesen
gemacht hat, nämlich weg von der Freiwilligkeit. Es gibt Schulpflicht.
Muss es denn nicht auch eine Kulturpflicht geben im Staat?
Schily: Da würde ich widersprechen, die Kultur ist
nun mal ein Kind der Freiheit. Und die Kultur wird sich nur in
Freiheit entfalten. Ich wüsste auch gar nicht, wie eine solche
Kulturpflicht aussehen sollte? Soll ich da irgendwelche Sanktionen
verhängen? Das ist ja manchmal selbst mit der Schulpflicht
ein bisschen schwierig. Also, wenn ich eine Kulturpflicht einführe
wie viele Bußgelder muss ich da in Deutschland verhängen?
Geißler: Ich glaube, es ging weniger um eine Kulturpflicht
für die Bürger als um eine Kulturverpflichtung für
Politiker und darum, dass der Wert der geistigen, der emotionalen
Leis-tung nicht richtig anerkannt wird.
Schily: Das ist genau der Punkt. Wie sieht es denn eigentlich
aus mit der Struktur unseres individuellen und gesellschaftlichen
Bewusstseins? Die Wirtschaft erhebt einen deutlichen Herrschaftsanspruch
und sagt dann, der Wert der Kultur liegt in ihrem ökonomischen
Wert. Aber wenn die Musik oder die Kultur nur kommerzialisiert
und in gewissem Umfang auch trivialisiert wird, dann ist das auch
nicht in Ordnung. Die Frage ist: Was ist die Essenz menschlichen
Lebens? Da sage ich immer noch: Staat und Wirtschaft haben eher
dienende Funktionen gegenüber der Kultur. Aber das muss man
erst einmal lernen. Und ob wir das lernen, das hängt auch
stark von Ihnen ab und sicherlich auch von der Politik, in einem
Wechselverhältnis. Und dass wir heute so ein Gespräch
führen, das ist ja ein ganz guter Anfang.
Maximilian Schnurrer: Sie sagten, es gebe viele Leute im
Bundesparlament, in den Länderparlamenten, die musikverbunden
sind. Aber das ist nicht so in den Kreistagen und in den Stadtparlamenten.
Was Sie für uns tun könnten, das wäre, ein Klima
der Inves- titionen in diesen Kreis- und Stadtparlamenten zu schaffen,
ein Fürsprecher für die Musikschulen zu sein, und zwar
auch in die kleinen Parlamente hinein. Das ist meine Bitte.
Schily: Das nehme ich sehr ernst. Es gibt ja eine Funktion,
die manchmal übersehen wird in meinem Ressort. Ich bin der
Kommunalminister. Das heißt, ich muss mich für die
Interessen der Kommunen verwenden. Es gibt natürlich unter
den Kommunalvertretern die Haltung, dass ein Schwimmbad mehr her
macht als die Musikschule, bei der man nicht so richtig weiß,
wie sie zu vermarkten ist. Vielleicht müssen wir versuchen,
einen Weg zu finden, wie wir das Marketing für Musikschulen
noch verbessern. Daran will ich mich gerne beteiligen.
Geißler: Wir haben heute bestätigt bekommen,
innere Sicherheit entsteht in einem Gemeinwesen, in einem Staat
über die innere Sicherheit des Individuums. Und innere Sicherheit
entwickelt ein Individuum dann, wenn es gut, umfassend und eben
gerade auch kulturell gebildet ist. Ich denke, die Institution Musikschule
ist ein vorzügliches Bildungsinstrument, das sehr viel dazu
beitragen kann, innere Sicherheit, Selbstsicherheit beim Individuum
zu erzeugen. Und ich bitte Sie in der Tat, diese Institution nicht
nur via Marketing, sondern vielleicht auch via Veränderung
der politischen Gesamtparameter, der Wertigkeiten, zu unterstützen.
Schily: Ja, also das sage ich Ihnen ohne weiteres zu.
Wir müssen uns über eine Sache im Klaren sein. Dass
unsere Rechtsordnung und unsere Gesellschaft funktioniert, hängt
im Wesentlichen davon ab, dass sich die übergroße Mehrheit
der Menschen rechtstreu und ordentlich verhält. Das heißt,
es muss von den Menschen selbst kommen.
Und wenn es von den Menschen selbst kommen soll, dann müssen
sie einen, wenn Sie das so nennen wollen, einen ethischen Individualismus
entwickeln. Und die Musikerziehung so seltsam das vielleicht
dem einen oder anderen in den Ohren klingen mag ist dabei
ein ganz entscheidender Beitrag. Und das hängt eben mit der
Tiefendimension von Musik zusammen. Das ist nicht nur eine oberflächliche
Betrachtungsweise. Das hängt mit der Tiefendimension der
menschlichen Existenz zusammen.
Deshalb haben Sie eine große Verantwortung, aber, wie ich
finde, auch einen der schönsten Berufe, die man haben kann.
Dazu beglückwünsche ich Sie und bedanke mich nochmals
ganz herzlich für Ihre Arbeit und bedanke mich auch für
den schönen Samstagnachmittag bei Ihnen.