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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 48
50. Jahrgang | Juni
Nachschlag
Japans Neunte
Wenn sich Nationalhymne definiert als liedhaftes, mehr oder weniger
pathetisches Musikstück, das gerne und regelmäßig
bei offiziellen, festlichen Gelegenheiten massenhafter Zusammenkünfte
vokal und/oder instrumental angestimmt wird, dann muss es sich bei
Friedrich von Schillers Ode An die Freude in der Vertonung
von Ludwig van Beethoven um die japanische Nationalhymne handeln.
Nippon, so vermute ich, ist nichts anderes als das japanische
Wort für Neunte. Die nämlich ist allein um
die Jahreswende im Großraum von Tokyo in zirka 37 Aufführungen
zu erleben. Ich bin noch keinem deutschen, auch keinem französischen,
russischen, Schweizer, sogar koreanischen Dirigenten von wie auch
immer bescheidenem internationalen Renommee begegnet, der nicht
schon mindestens eine Serie von Neunten im Reich der rot aufgehenden
Sonne geleitet hat.
Als es 1985 gilt, in Tokyos Sieben-Millionen-Stadtteil Sumida die
Wiedereröffnung des alten Nationalstadions (Kokugikan)
mit dem gebotenen Pomp zu begehen, da liegt es natürlich auf
der Hand, dies mit einer Aufführung von Beethovens op. 125
zu tun und sich damit möglichst gleich im Guinness-Buch der
Rekorde zu verewigen. Die Plätze im Stadion werden gerecht
1:1 verteilt 5.000 für die Chorsänger, 5.000 für
die Zuhörer, im Innenraum das lediglich verdoppelte Orchester.
Hatte man dabei zunächst an ein einmaliges Ereignis gedacht,
so lässt der überwältigende Erfolg daraus eine Tradition
der alljährlichen Wiederkehr werden, von der Sumida Chorgesellschaft
gestemmt. Doch damit nicht genug: Diesen Kuss der ganzen Welt,
heißt es ja in dem von allen Choristen auf deutsch geschmetterten
Schiller-Text! Singts und beschließt, die adoptierte
japanische National-Ode zum Exportschlager umzudrehen.
Da tritt ein Berliner Intendant auf den Nippon-Plan, um für
sein Orchester eine Tournee einzufädeln. Bei Sushi und Bier
lässt er sich davon überzeugen, dass die Städtepartnerschaft
Tokyo-Berlin keine Einbahnstraße sein dürfe und sich
der Sumida Chor für einen Gegenbesuch anbietet, wenn auch nicht
unbedingt in voller Besetzung. Versprochen ist versprochen, auch
als sich herausstellt, dass das Berliner Orchester zum gewünschten
Termin, Ostern 2001, gar nicht zur Verfügung stehen kann. Was
nun? Die rettende Idee: das LandesJugendOrchester Berlin! Denen
ist beinahe alles zuzutrauen, seit sie im ehrwürdigen Konzerthaus
am Gendarmenmarkt im vergangenen September eine Mahler-Symphonie
hingelegt haben, die sich ihres Beinamens Titan nicht
zu schämen brauchte. Warum also nicht nach Mahlers Erster nun
Beethovens Letzte?
Beim Landesmusikrat in der Hauptstadt holt man tief Luft, und
als die Finanzierung durch den Chor der Fünftausend und das
Konzerthaus auch fürs Orchester gesichert erscheint,
springt die Ampel auf Grün. Mit Peter Gülke wird ein gestandener
Pulthase geholt, der das LJO kennt und üppig Neunte-Erfahrung
besitzt, selbstverständlich auch in Japan. Nur: mit 200 bis
250 Leuten hat sich der Sumida-Chor angekündigt wie
soll man die bloß auf dem Podium unterbringen, im Konzerthaus
und erst im viel kleineren Potsdamer Nikolaisaal?
Die Sorge wechselt plötzlich das Vorzeichen, als die Nachricht
eintrifft, man werde am Karfreitag spätabends anreisen, und
zwar mit 62 Choristen, davon 42 Alte in des Wortes doppelter
Bedeutung, wie sich später noch herausstellt. Das sind genau
1,24 Prozent der Sumida-Besetzung, dazu stimmlich nicht eben ausgewogen.
Nun wirds kritisch. Beim Landesmusikrat heißt es: Brüder!
Überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen. Der weiß
tatsächlich Musik-Rat und lässt ihn der Projektleiterin
im (Angst-)Traum zukommen: Der Akademische Chor Ivan Goran
Kovacic aus Zagreb, in Berlin bereits Mendelssohn-bewährt,
erhält den Notruf: O Freunde, nicht wieder diese Töne,
sondern lasst uns dieses Mal Beethoven anstimmen! Klar, den haben
sie auch drauf, aber eisern. Nun ist Rettung in Sicht.
Froh, wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmels prächtgen Plan,
Fliegen beide Chöre endlich
Am Karfreitag abend an.
Mit Lufthansa, über Frankfurt. Die Japaner treffen allerdings
mit Verspätung ein und gelangen in ihr Hotel genau 24 Stunden
nach der Abreise, aber nur acht Stunden vor Probenbeginn; unter
ihnen sind nicht wenige, die wenn nicht die Uraufführung so
doch die japanische Erstaufführung von Beethovens Neunter mitgemacht
haben könnten. Es hilft nichts, die Probe muss um eine Stunde
verkürzt werden. Und am Abend soll bereits die erste Aufführung
steigen! Professor Gülke ringt um seine Fassung. Aber dann
trudeln sie ein, die jugendlichen Kroaten, die reiferen Japaner,
dazu einige Berliner Chor-Freaks, und es geschieht ein kleines österliches
Musikwunder:
Ludwigs Zauber binden wieder,
Was Nationen streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder...
Na ja, Sie wissen schon. Der reichlich gemischte Chor passt mit
Mühe und Not auf die Podien aber singt, als sei er in
dieser Besetzung seit Wochen einstudiert worden. Die Solisten geben
ihr Bestes, das LandesJugendOrchester leistet Beachtliches, und
Peter Gülke führt alle mit sicherer Hand und freudig,
wie ein Held zum Siegen. Das Publikum, das am Ostersonntag
das Konzerthaus bis auf den letzten Stehplatz füllt, mische
seinen Jubel ein und tut es auch. Ausgiebig. Fazit:
Wir sind noch einmal davon gekommen!
Es lebe die deutsch-japanisch-kroatische Freundschaft!
Klassik is cool, wie ein Berliner Slogan lautet,
und die Neunte einfach krass!