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nmz 2001/06 | Seite 24
50. Jahrgang | Juni
Pädagogik
Den Schüler musikalisch schweben lassen
Musikalischer Flow beim Instrumentalspiel: eine Perspektive für
ästhetische Erfahrungsprozesse · Von Nicolai Petrat
In der pädagogischen Diskussion wird immer wieder gern über
den Komplex Musikalische Bildung/Musikästhetische Erfahrung
nachgedacht und spekuliert. Zumeist läuft dies auf eine Grundsatzdebatte
hinaus, wobei der Bezug zur Unterrichtspraxis leicht aus dem Blickfeld
gerät. Die Theorie der Instrumentalpädagogik liefert heute
zwar eine Vielzahl an musikästhetisch sinnvollen Ansätzen,
und in manch neuer Instrumentalschule steht inzwischen musikalisches
Material für ihre praktische Umsetzung zur Verfügung,
geht es aber um die Verwirklichung, klaffen gerade hier im Hinblick
auf die ästhetische Förderung der Instrumentalschüler
Theorie und Praxis noch sehr auseinander. Insofern ist es an der
Zeit, mehr über die Frage der Lehrbarkeit musikästhetischer
Erfahrungen im Instrumentalunterricht nachzudenken.
Voraussetzung für tatsächliche musikästhetische
Erfahrungen ist meiner Ansicht nach zweierlei: Erstens beginnen
sie nicht gleich in dem Moment, wenn jemand sein Musikinstrument
in die Hand nimmt und anfängt zu musizieren. Grundsätzlich
sollten und können wir uns nicht darauf verlassen, dass das
Ästhetische unvermittelt eintritt, sondern wir Pädagogen
müssen ihm bewusst Raum zu seiner Entfaltung geben. Zweitens
haben ästhetische Erfahrungen etwas mit offenen und sehr individuell
verlaufenden Prozessen zu tun. Wesentliche Aufgabe für uns
Pädagogen sollte es insofern sein, für ganz spezifische
Methoden der Selbstbegegnung (Richter 2000) und individuellen
Sinnstiftung zu sorgen, bei denen gewährleistet ist, dass sich
die ästhetische Sensibilität beim Schüler wirklich
von innen heraus bilden und auch möglichst stets weiterentwickeln
kann.
Eine wesentliche Bedingung sehe ich in der Chance, Flow-Erlebnisse
erfahren zu können; darin sehe ich zumindest den entscheidenden
Schlüssel für die Unterrichtspraxis: Den Begriff Flow
hat heute vor allem Mihaly Csikszentmihalyi geprägt. Gemeint
ist damit das Hochgefühl, völlig im Einklang zu sein mit
sich selbst und dem, was man tut: Flow ist ein Zustand des
einheitlichen Fließens von einem Augenblick zum
nächsten, wobei (man) Meister seines Handelns ist und kaum
eine Trennung zwischen sich und der Umwelt (...) oder zwischen Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft verspürt. (Csikszentmihalyi 1985)
Die intensive Beschäftigung mit der Aufgabe lässt
keinen Raum für Selbstzweifel, sondern gibt einem zu jedem
Zeitpunkt die Sicherheit, wie man agieren muss, und das Feedback,
dass alles im Lot ist. (Csikszentmihalyi 2000).
Das musikalisch Schöne
Es liegt nahe, dass dieser Zustand auf ganz unterschiedlichen
Fertigkeitsebenen eintreten kann. Besonders gilt er für ganzheitliche
Tätigkeiten, die Geschicklichkeit, Sinnlichkeit und Fantasie
gleichermaßen erfordern und das kann bekanntlich ganz
besonders auf eigenes Musizieren zutreffen. Das Bewusstsein wird
in diesen Momenten des Flows vor allem auf die Sinne gelenkt, von
ihnen geradezu beherrscht. Es geht um Momente, in denen technische
Schwierigkeiten überwunden scheinen oder gar keine Rolle spielen.
Die musikalische Interpretation scheint in sich vollkommen stimmig
und man schwebt geradezu auf seinem musikalischen Können
ohne Druck, ohne Kritik, ohne Intervention von außen.
Hier scheint ein Stadium musikästhetischer Erfahrung erreicht
zu sein, das subjektiv als schön empfunden wird
und mit Worten schon gar nicht mehr präzise zu beschreiben
ist. Manche empfinden dieses Gefühl, wenn sie auf ihrem Instrument
allein zu Hause spielen, bei anderen kommt es beim gemeinsamen Musizieren
im Ensemble oder Orchester. Meiner Ansicht nach ist dies genau jenes
Stadium, wo musikästhetische Erfahrung erlebbar wird, und an
sich sind unsere Schüler davon gar nicht so weit entfernt,
im Gegenteil: Schüler orientieren sich eher am schön Klingenden.
Jeder versucht doch, sein Können auf dem Instrument so zu optimieren,
dass das Resultat einfach schön klingt, zumindest
für den Musizierenden selbst. Mit anderen Worten: Wir können
davon ausgehen, dass musikalische Flow-Erlebnisse beim eigenen Musizieren
vor allem durch die Kategorie des Schönen reflektiert
und gesteuert werden. Und gerade hier hat der Soziologe Gerhard
Schulze wichtige theoretische Vorarbeit geleistet, die wir Pädagogen
in die Methodik der Unterrichtspraxis übernehmen sollten, nämlich
die Aufwertung der Kategorien des Schönen und des Genusses:
Körperliche Reaktionen und kognitive Repräsentationen
werden dabei zu einer Einheit, die der Erlebende als angenehm empfindet.
(...) Ästhetik geht durch den Körper; das Schöne
und das Häßliche ist, bei aller Vernetzung mit Gedanken,
Bildern, Erinnerungen, Assoziationen, bei aller Intellektualität
der Wahrnehmung formaler Muster, in der körperlichen Erfahrung
verankert, auch wenn wir uns dessen nicht bewußt sind (...)
Genuß als Inhalt der innenorientierten Sinngebung alltagsästhetischer
Episoden ist eine Bedeutungsebene, die für die Betroffenen
höhere Evidenz besitzt als andere Bedeutungsebenen. (Schulze
1993). Damit wird eine Erlebensebene aufgewertet, die auch das individuell
als schön Empfundene ausdrücklich emanzipiert.
Damit rückt das selbstständige Handeln in den Mittelpunkt
der Erfahrung des Schönen. In diesem Aspekt sehe
ich sogar die entscheidende Dimension für wirkliche musikästhetische
Erfahrungen. Denn musikästhetische Wahrnehmung beginnt für
mich erst durch meine Erfahrung, indem das Musikstück durch
meine Wahrnehmung zu einer wirklichen Erfahrung wird.
Individuelle Selbstbestimmung
Bezeichnend ist, dass offenbar gerade der Anfänger-Schüler
hier häufig (noch) über ein großes Potenzial verfügt.
Gerade in den ersten Stunden wird das Lernen in der Regel noch von
einer mehr oder weniger großen Euphorie des Schülers
getragen. Selbst in dieser Anfangsphase scheinen sich bereits manche
musikalische Hochgefühle auszuprägen, wenn dem Schüler
beispielsweise ein paar warme Cellotöne gelingen oder die erste
Melodie funktioniert. Jedenfalls ist es typisch für
instrumentalspezifische Lernprozesse, dass sie am Anfang generell
zumeist von Neugier und Euphorie getragen werden. Psychologisch
gesprochen dominiert hier die intrinsische (von innen kommende)
Motivation. Aber diese Euphorie kommt bei vielen offensichtlich
nach einiger Zeit zum Erliegen. Nach meinen Beobachtungen in der
Unterrichtspraxis und in Gesprächen mit Instrumentalschülern
fällt auf, dass offenbar gerade bei fortgeschrittenen Schülern
die Momente musikalischer Hochgefühle sehr zurückgehen.
Mit anderen Worten und sicher auch etwas überspitzt formuliert:
Theorie und Praxis klaffen offenbar umso mehr auseinander, je mehr
Unterricht ein Schüler erhält. Die Unterrichtsmethodik
scheint hier zu versagen! Lässt damit aber auch die wirklich
musikausgerichtete Motivationsbereitschaft der Schüler nach?
Ich denke nein! Auch wenn gerade Jugendliche häufig in die
bekannten Motivationskrisen kommen und den Instrumentalunterricht
am liebsten abbrechen möchten, besteht meiner Ansicht nach
gerade auf musikästhetischer Ebene zwischen Lehrern und Schülern
offenbar kein Konsens mehr.
Nach meiner Einschätzung wird die Musikrezeption heute bei
vielen durch einen hohen Grad an individueller Selbstbestimmung
geprägt, wofür im Instrumentalunterricht offenbar zu wenig
Raum gegeben wird. Immerhin sollten wir uns in diesem Zusammenhang
die Heterogenität musikausgerichteter Freizeitbeschäftigung
heutiger Jugendlicher vor Augen führen. Denn das Bewegen in
mehreren Musikkulturen bedeutet meiner Ansicht nach auch einen Gewinn,
nämlich eine differenziertere Ausdrucksfähigkeit, weil
sie den Erwerb neuer Möglichkeiten der Identifikation und Symbolisierung
bedeutet, was auch ästhetisch genutzt werden kann.
Schülermotivierung
Der für mich entscheidende Schlüssel, diesen Veränderungen
gewachsen zu sein und musikästhetische Erfahrungen bei Schülern
nicht nur auszulösen, sondern auch zu optimieren, besteht für
mich vor allem in der Art der Schülermotivierung im Instrumentalunterricht.
Ich gehe davon aus, dass hinter dem intrinsisch motivierten Musizierbedürfnis
ein wichtiger genereller verhaltensbiologischer Mechanismus steckt,
der in die Richtung von Flow-Erlebnissen geht und im Instrumentalunterricht
methodisch-didaktisch gut genutzt werden könnte. Dieser Prozess
lässt sich an meinem Modell des Motivationszirkels
gut verdeutlichen: Ausgangspunkt und Perspektive jeglicher Motivation
ist aus verhaltensbiologischer Sicht prinzipiell das Motiv, die
eigene Existenz zu sichern, alles Erreichte vor Gefahren von außen
zu schützen, generell also größtmögliche Sicherheit
und Geborgenheit zu erlangen. Es liegt nahe, dass auch die Orientierung
am Ästhetischen oder Schönen hierher
gehört. Und das bedeutet wiederum, seinen erreichten Sicherheitsstandard
auch einmal genießen zu können, das einzuübende
Werk möglichst so hinzubekommen, dass es einfach schön
klingt zumindest aus der Perspektive des Instrumentalschülers.
Das als schön Empfundene würde sich aber
bald abnutzen, wenn nicht der Neugierreflex für neue Orientierungen
sorgen würde und den Motivationszirkel ab und zu quasi zum
Rotieren bringen würde. Dadurch entsteht vorübergehend
zwar ein Stadium der Unsicherheit, so dass man geradezu herausgefordert
wird, sein Sicherheitsgefühl wiederzuerlangen. Ist aber die
Balance zwischen Herausforderung und tatsächlichem Können
nicht zu groß, lässt sich durch entsprechende Anstrengung
wieder ein Zustand erreichen, bei dem man sich nicht nur sicherer
fühlt, sondern sogar die Chance erhält, zu einem Flow-Gefühl
zu kommen. Das sind dann in meinen Augen genau jene Momente, aus
denen so etwas wie ästhetische Erfahrungen resultieren:
Man spürt eine totale Übereinstimmung mit sich selbst
und den von außen gesetzten Bedingungen, eine bestimmte Fertigkeit
ausüben zu können also in unserem Fall mit seinem
Musikinstrument optimal umgehen zu können. Hier scheinen Geschicklichkeit,
Sinnliches und Fantasie in völligem Einklang zu sein.
Doch leider zeigt die Praxis, dass nur sehr wenige Schüler
in diesen Zustand gelangen. Offenbar wird in der Praxis des Instrumentalunterrichts
zu wenig für die intrinsische Motivation unternommen, mit der
Folge, dass letztlich auch musikästhetische Erfahrungen gar
nicht gemacht werden. Mit anderen Worten: Schüler erfahren
von ihren Lehrern offenbar zu wenig künstlerisches Selbstvertrauen,
so dass sie wenig positive Selbstakzeptanz entwickeln können,
wiederum mit der Folge, dass damit auch eine wirklich selbstständige
Auseinandersetzung mit musikalischer Materie und somit wirkliche
musikästhetische Erfahrungen verhindert werden.
Flow-Killer
Vor dem Hintergrund des dargestellten Motivationszirkels könnte
man geradezu von Flow-Killern sprechen. Ich möchte
sie auf vier wesentliche, die Unterrichtsmethodik betreffende Aspekte
bringen:
Lehrer vermitteln aus meiner Sicht nicht selten recht einseitige
technische Orientierungen, als ob Musik ein Gegenstand wäre,
den man technisch wie auch immer in den Griff nehmen
und ein für alle Mal bewältigen könne.
Häufig erstarrt Instrumentalunterricht in Routine. Aufgeschlossenheit
für Neues und musikalische Experimientierfreude werden gelähmt.
Und damit wird ja gerade der entscheidende Motor abgestellt, überhaupt
ein neues und vor allem optimiertes Sicherheitsgefühl erfahren
zu können.
Als Lehrer neigt man leicht dazu, sich zu früh und zu häufig
in musikalische Erfahrungsprozesse von Schülern einzumischen,
so dass Schüler zu wenig in ihrer künstlerischen Selbstständigkeit
herausgefordert werden. Dann gerade produzieren wir Pädagogen
nämlich Schüler, die ihrem Spiel bald nichts Schönes
mehr abgewinnen, sich daran nicht mehr ergötzen können,
sondern sich vielmehr immer gleich auf die problematischen Stellen
stürzen, sich also dann nur verzweifelt an die Anteile der
Musik klammern, die mit Ästhetischem gar nichts mehr zu tun
haben und schließlich mit dem Musizieren ganz aufhören.
Pädagogische Intervention kann also nur gelingen, wenn wir
auch Vertrauen in die künstlerische Selbstständigkeit
der Schüler legen und ihnen Zeit zum eigenen Gestalten einräumen.
Gerade in diesem Stadium des Motivationszirkels gilt der didaktische
Grundsatz, immer zu überlegen, was und wie viel ein Schüler
selbst entdecken, herausfinden, erarbeiten oder mitbestimmen kann,
also wie viel Lenkung wirklich nötig ist. Denn die ästhetische
Erfahrung muss jeder selbst machen. Wir Pädagogen können
nur Situationen schaffen und den Schüler psychologisch unterstützen.
Daraus resultiert mein letzter Flow-Killer:
Schülern wird im Hinblick auf ihre künstlerische Kompetenz
häufig viel zu wenig positives Feedback gegeben, das nicht
selten zu einem mangelnden künstlerischen Selbstvertrauen
der Schüler führt. Gerade dieses Selbstvertrauen in
die eigene musikalische Kompetenz sehe ich aber als den entscheidenden
Motor dafür, ein musikalisches Flow-Erlebnis erfahren zu
können oder besser: zu dürfen.
Literatur:
Csikszentmihalyi, Mihaly (1985): Das Flow-Erlebnis. Jenseits
von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen, Stuttgart: Klett-Cotta
Csikszentmihalyi, Mihaly/Jackson, Su-san A. (2000): Flow im Sport.
Der Schlüssel zur optimalen Erfahrung und Leistung, München:
BLV
Petrat, Nicolai (2000): Psychologie des Instrumentalunterrichts,
Kassel: Bosse
Richter, Christoph (2000): Das sogenannte Künstlerische.
In: Diskussion Musikpädagogik 6/2000
Schulze, Gerhard (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie
der Gegenwart, Frankfurt/M.: Campus