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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 37
50. Jahrgang | Juni
Jazz, Rock, Pop
Neo-Nora und Seemann Mäckis Braut
Abschied von zwei alten Schachteln: Helen Vita &
Evelyn Künneke
Vor einigen Jahren kamen drei Veteraninnen des deutschen Tingel-Tangels
auf die Idee, sich zusammenzutun und selbstironisch als drei
alte Schachteln zu firmieren: Helen Vita, Evelyn Künneke
& Brigitte Mira. Innerhalb nur weniger Wochen haben nun die
ersten beiden Damen die Brettl-Bühne für immer verlassen.
Zurück bleibt die Älteste im Bunde, die Berliner Schnauze
Brigitte Mira, Jahrgang 1905, die in den 70ern von Peter Zadek und
Rainer Werner Fassbinder (Angst essen Seele auf) wiederentdeckt
worden ist.
Als sie noch jung waren: die
Vita...
Die Vita und die Künneke, wie vertrug sich das? Die eine von
Brecht fürs Brettl entdeckt, die andere die Swing-Queen der
Landser (Sing, Nachtigall, sing). Die Diseuse Vita war
die Ikone der linken Intelligenz in der Wirtschaftswunderzeit, die
Schlager-Tante Künneke dagegen die feucht-fröhliche Vetterin
aus Dingsda. Ihr Mäcki war ein Seemann und kein messerschwingender
Ganove. Der Vita standen Friedrich Hollaender und Erich Kästner
näher als die alten Ufa-Helden Peter Igelhoff & Mäcki
Jary, der die Tochter des Operetten-Komponisten Eduard Künneke
umschwirrte, wie Motten das Licht.
Als Rosa von Praunheim die Künneke in den 70er-Jahren als
Schwulenikone entdeckte und sich mit ihr verlobte, hat man ihr das
Etikett Diseuse angehaftet. Das gefiel ihr gar nicht.
Diseusen haben keinen Swing, protestierte sie
und das zu Recht. Denn sie war stolz, nicht nur Deutsche zu sein
wie sie in ihrer unsäglichen Bemerkung über die
Vaterlandsverräterin Marlene Dietrich betonte,
sondern auch auf ihre Swing-Vergangenheit. Für sie gehörte
das zusammen, als Sinatra-Sklave mit dem Traum ihrer
schlaflosen Nächte (?) auf der Pariser Lotterliege
gelandet zu sein und mit dem Stan Kenton Orchestra als neue Misty
Miss Christy durch Amerika getourt zu sein. Benglisch
sang sie übrigens ein Leben lang, denn die ehemalige Stepteuse
hielt als Anti-Star nie besonders viel von Präzision,
dafür um so mehr von Energie die ihr bis zuletzt nicht
ausging.
...und Evelyn Künneke.
Fotos: Archiv
Stichwort Präzision. Auftritt Helen Vita, geboren 1928 in
Hohenschwangau, aufgewachsen in Genf. Spielte in der Uraufführung
von Brechts Herr Puntila und sein Knecht Matti am Züricher
Schauspielhaus. Landete als Vortragskünstlerin danach in den
frühen 50ern in Trude Kolmans legendärer Kleinen
Freiheit. Und dort sang sie auch eines ihrer besten Chansons:
Martin Morlocks bissiges Neo-Nora oder das Puppenheimchen
wie sich die Trümmerfrau zurückverwandelte in das
Heimchen vom Dienst. Irgendwann in den Sixties landeten ihre freizügigen
Chanson-Platten (Dolce Helen Vita) dann auf dem Index
der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende
Schriften, putzig. Und natürlich wurde die Vita auch
für das Kino entdeckt. Als Verruchte vom Dienst
war sie in Das Mädchen Rosemarie genauso dabei
wie in Bob Fosses Cabaret. Zu Vitas Lieblingsnummern
gehörten in den letzten Jahren Hollaenders Wiener Schmarrn
und Stroganoff. Hört man ihre Interpretation davon,
beginnt man zu ahnen, warum sie als Diseuse in einem
Atemzug zu nennen ist mit Blandine Ebinger, Claire Waldoff, Marlene
Dietrich oder Lotte Lenya. Mit Helen Vita ging eine Ära zu
Ende. Zuletzt schwärmte sie nur noch von Menschen, die
nicht mehr existieren. Dann bilde ich mir ein, sie seien noch am
Leben und noch jünger.