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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 38
50. Jahrgang | Juni
Jazz, Rock, Pop
Die sanfte Macht der leisen Töne
Quiet is the New Loud: Mehr als die neueste Mode
der Musikindustrie?
Das Pop-Business gehorcht denselben Regeln wie einst die Avantgarde
mit ihren permanenten Tabubrüchen und Revolutionen:
Zuerst wird, von den Rändern her, aus dem Underground
der Jugend- und Subkulturen, ein neuer, alles bisherige umwerfender
Kode oder Stil instituiert, der aber im besten Fall rasch selbst
zur Norm und Regel wird, sich in der Wiederholung erschöpft
und schließlich durch einen weiteren, unerhörten
ersetzt werden muss.
Wenn die Wahrheit im Extrem liegt und der größte Reiz
in der Steigerung, dann können Hip-Hop und Nu Metal
mit ihren beats per minute-Orgien, Text-Brutalismen
und sonstigen Sensationen nur noch durch eins getoppt werden: durch
entschiedene Reduktion, eine gewissermaßen schreiende Stille.
Es ist also sehr viel mehr als nur ein gelungenes PR-Paradox, wenn
die sanften Norweger der Newcomer-Band Kings of Convenience
ihr erstes Album Quiet is the New Loud nennen und damit
ungewollt? die Programmatik des next big thing
auf die knappste Formel bringen. Umkehr im Reich der Töne?
Zumindest eine Reihe guter (und noch mehr weniger guter) Alben,
die sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen und für
die sich auch prompt Traditionslinien und mögliche Weiterungen
finden lassen.
Die norwegischen Kings machen Schluss mit dem reinen
Vitalismus der diversen Hi-Energy-Genres, aber auch mit der bewussten
Subjekt-Freiheit avancierter Electronica, die weitgehend anonym,
in immer neuen Projekten und daher ohne Geschichten auskommen. Die
Kings vertrauen wieder auf das Gewicht meiner
Worte, so der Titel eines ihrer Songs; sie misstrauen den
schon millionenfach durchlebten Dramen nicht mehr, sondern versuchen
ihnen eine neue Facette abzugewinnen: die der eigenen Bildungsgeschichte
und der authentischen Gefühle wo immer sie auch herkommen
mögen. Trotzdem führen bei ihnen Referenzen wie Simon
& Garfunkel oder Nick Drake eher in die Irre: folky
sind die neuen Leisen nur en passant, schräg nur im Notfall.
Bei den Turin Brakes, der erfolgreichsten Band der
Bewegung, wird das noch deutlicher: Ihre Songs klingen so frisch
als gäbe es nicht die Last einer jahrzehntelangen Songwriter-Tradition;
sie sind nicht naiv, haben auch so wenig Angst vor Klischees oder,
positiver formuliert, Mythen, dass sie sie nicht mehr
demaskieren oder destruieren müssen. Ihr Album nennen sie hintersinnig
The Optimist LP; sie zitieren nicht jedenfalls
nicht explizit , sie verfangen sich auch nicht in einer Fülle
von Referenzen und doch ist ihr Anfang so reich und klar, als seien
sie nicht Früh-Twens, sondern alte Helden, die ihr Lebenswerk
resümieren. Dass sie sich vollkommen ungeniert zu Joni Mitchell
bekennen, zeigt, wie Zyklen in Kunst und Kommerz funktionieren.
Alles kann aktuell, auch Beute oder Vorbild werden, nur nicht das,
was man ersetzt, die unmittelbare Vorgänger-Generation also.
Arab Strap, die Band aus Glasgow, gehört noch dazu, obwohl
sie schon einige Karrieren und Companies hinter sich hat und wüster,
gebrochener musiziert und, vor allem!, performt als die New
Loud-Exponenten. Dafür zeigen Moffat & Middleton
auf The Red Thread, dem neuen Album auf ihrem alten
Label Chemikal Underground, was das Zentrum der neuen Bewegung ist
oder zumindest werden könnte: entschiedenste Intimität.
Wenn das Private politisch ist, wie der alte 68er Leitsatz lautete,
dann ist Arab Strap derzeit die politischste Band der Welt. Moffat
& Middleton bekennen sich in der nacktesten Form
zu dem, was sonst sofort Gegenstand der Romantisierung oder des
Posings wird: zur (eigenen) Sexualität nämlich, die als
Motor aller Euphorien und Verzweiflungen und des raschesten Hin-
und Herschwankens zwischen beidem erscheint. Dazu passt ihre Form
von low-fi-, also Palace- und Smog-naher Gitarrenmusik, die aber
in der Reduktion und im Bruch noch mehr entdeckt als Skepsis gegenüber
allzu glatten Identitäten: eine Möglichkeit der Intensivierung
nämlich. Wunderbares Album; voller Geheimnisse und immer auch
ein wenig gefährdet.
An Elbow (V 2), den Journalisten-Lieblingen der letzten Wochen,
kann man studieren, wie es mit dem New Loud weitergehen
könnte: weg von der reinen Akustik, von Lagerfeuer, Wohnzimmer
und Bar, hin zu einer fast schon symphonischen Düsternis, einer
Kammer-Pop-Variante heftiger Klangfarbenmusik. Das Elbow-Paradox:
ein Minimalismus der fetten Töne, Ambient-Musik als existenzielles
Statement. Dabei entstehen liaisons dangereuses quer
durch die Zeiten: Art-Rock und Prog-Rock erscheinen plötzlich
wieder als Möglichkeiten, an denen und mit denen man weiterformulieren
kann.
Helmut Hein
Diskografie
Kings of Convenience: Quiet is the New Loud (Source/Virgin
Labels)
Turin Brakes: The Optimist LP (Source/Virgin Labels)
Arab Strap: The Red Thread (Chemikal Underground/Zomba)