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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 37
50. Jahrgang | Juni
Jazz, Rock, Pop
Offene Ohren sind Voraussetzung
Von Osmanen, echten und getürkten Türken
Niemand weiß, wie Europa heute aussähe, hätten
die osmanischen Truppen die diversen Türkenkriege
überwiegend zu ihren Gunsten entschieden. Die verhassten und
allzeit erbittert bekämpften Osmanen besaßen zugleich
den Reiz der Exotik, der sich musikalisch beispielsweise in endlosen
Arabesken oder in Mozarts Rondo alla Turca
wiederfand. Unklar bleibt dabei, wie viele Europäer damals
ernsthaft Chancen hatten, klassisch-osmanische Musik zu hören,
die Schwester der klassisch-arabischen mit ihrer Tradition mindestens
seit dem 9. Jahrhundert. Unbestreitbar jedenfalls ist der Einfluss
der Janitscharen-Musik, wodurch die europäische Militärmusik
aufgerüstet wurde der osmanischen Elitetruppe
vom Balkan verdankt auch heute noch jede bessere Kirmes-Kapelle
den Schellenbaum. In neuerer Zeit befassten sich nicht zuletzt Hindemith
und Bartók mit verschiedenen Aspekten der klassischen Musik
aus dem Vorderen Orient.
Nach dem Ende des Osmanischen Reiches schuf bekanntlich Kemal Atatürk
den türkischen Nationalstaat und verbot zum Zwecke der Europäisierung
unter anderem (neben dem Schleier) die osmanische Musik; dieses
klassische Erbe indes hat den Pascha längst überlebt.
Mit der arabischen Klassik ist es neben diversen Instrumenten verbunden
mit den Maqamât (türk. Makamlar), den einige hundert
umfassenden Tonvorräten, die sich entfernt mit
den abendländischen Modi vergleichen lassen. Eine osmanische
Eigenart ist der Usul, das mitunter sehr komplizierte rhythmische
Grund-Pattern, das bis zu 21 Schläge umfassen kann. Die Beschäftigung
mit osmanischer Kunstmusik setzt offene Ohren voraus und verspricht
manches interessante Hörerlebnis. Zahlreiche Labels bieten
einschlägige Musik an; hier sei vor allem auf den großen
türkischen Bestand bei Ocora, dem Label von Radio France verwiesen
(Vertrieb inak). Das achtköpfige, fast international besetzte
Ensemble Sarband um den in München lebenden bulgarischen
Musiker und Musikwissenschaftler Vladimir Ivanoff spielt auf der
CD Alla Turca Oriental Obsession (Jaro 4237-2)
Musik aus LOrient Imaginaire, der wie gezeigt
so imaginär gar nicht ist, hier allerdings aus zweiter
und dritter Hand stammt, was gewisse Probleme der Authentizität
aufwirft. Zugleich stößt man hier in eine interessante
Nische der Rezeptionsgeschichte vor. Während vier turkifizierte
Versionen des erwähnten Rondo alla Turca (je nach
Anschauung interessant oder albern) das Programm einrahmen, besteht
dieses im Wesentlichen aus zumeist kurzen Stücken, die von
Europäern am osmanischen Hof aufgezeichnet wurden. Der rumänische
Prinz Cantemir (16731723) etwa lebte als Geisel am osmanischen
Hof und wurde durch seine Sammlungen und Abhandlungen zu einer wichtigen
Figur der osmanischen Musikgeschichte; weitere Sammler waren etwa
der Pole Wojciech Bobowsky (16101675), diverse Reisende und
Diplomaten. Gar Heinrich Isaac ist hier vertreten. Bei aller instrumentaler
Kompetenz, bei allem Reiz des Programms stellt sich die Frage, wieso
man hier auch einen sehr abendländischen Sopran, ein Cello,
gar Lautenmusik der Renaissance zu hören bekommt vielleicht
als Hör-Hilfe? Wer osmanische Musik für sich entdecken
will, bekommt mit dieser CD einen guten Einstieg; dann allerdings
wird man sich mehr auf die Originale besinnen.