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nmz-archiv
nmz 2001/06 | Seite 23
50. Jahrgang | Juni
Noten
Lustspiel, Glücksspiel, Siegeszug
Die Oper Maskarade in der Carl-Nielsen-Gesamtausgabe
Wie stellt ein Komponist es an, wenn er seine neue Oper zur Begutachtung
in der nächsten Spielzeit fristgerecht einreichen möchte,
jedoch mit dem Werk nicht rechtzeitig fertig wird? Carl Nielsen
(18651931), Dänemarks überragender Tonschöpfer
und, war die Inspiration erst mal in Gang, eigentlich ein zügiger
Schreiber, ließ sich eine geschichtsreife Zirkusnummer einfallen,
die in ihrer Pfiffigkeit ebenso Handlungsbestandteil der betreffenden
Oper, der Maskarade nach Ludvig Holberg (16841754),
hätte sein können.
I ndem er davon ausging, dass der musikalisch für die Annahme
verantwortliche Kapellmeister am Königlichen Theater in Kopenhagen,
der ihm wohlgesonnene und auch als Komponist berühmte Johan
Severin Svendsen, sich nicht die Zeit nehmen würde, die Partitur
durchgehend genau zu studieren, schrieb er mitten in den dritten
Akt einen Vorabschluss, bestehend aus einigen konventionell donnernden
Tuttiakkorden und dem obligatorischen doppelten Taktstrich. Der
amüsante Coup funktionierte, die Oper wurde akzeptiert, und
Nielsen hatte noch genug Zeit, den Rest planmäßig zu
Papier zu bringen.
Nun ist im Rahmen der schnell voranschreitenden Carl-Nielsen-Gesamtausgabe
fast ein Jahrhundert nach der Entstehung erstmals die Partitur von
Maskarade im Druck erschienen eine Sache, die
Nielsen eigentlich Zeit seines Lebens zu Recht von seinem Verleger
Hansen erwartete. Dass es so lange gedauert hat, ist in der Tat
schwer zu verstehen, setzte sich die Maskarade doch
schnell und nachhaltig als die repertoirefähigste dänische
Oper durch, und heute besteht kein Zweifel, dass sie das bedeutendste
Musiktheaterwerk ist, welches das kleine Land hervorgebracht hat,
ja sogar nicht zuletzt, da Sibelius diese Gattung nicht bedient
hat die herausragende skandinavische Oper der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts. Lediglich eine Taschenpartitur des ersten
Akts als Manuskriptkopie war bislang käuflich erhältlich.
Carl Nielsen komponierte Maskarade, seine zweite Oper
nach dem biblisch-oratorischen Saul und David, 1905
auf ein noch heute umstrittenes, gleichwohl theaterwirksames Libretto
von Vilhelm Andersen nach Holbergs Lustspiel. Die umjubelte Uraufführung
fand am 11. November 1906 unter seiner Leitung statt. Es geht um
die bevorstehende Zwangsverheiratung von Leander mit der ihm unbekannten
Leonora. Als er sich auf dem Maskenball (= Maskarade) im gegenüber
liegenden, verruchten Hause verliebt, rebelliert er
und besucht trotz des Verbots durch seinen Vater Jeronimus zusammen
mit dem trickreich loyalen Henrik auch die Maskarade in der daraufolgenden
Nacht. Dort sind sie nun alle, getrieben von verschiedensten Motiven:
die jungen Damen und Herren, Leanders aufgebrachter Papa und seine
in Tanzwallung befindliche Mama, die sich ausgerechnet in den designierten
Schwiegervater verguckt. Diese pittoreske Szenerie ist außerordentlich
kaleidoskopisch geraten, was Nielsen ob der vermeintlichen Unübersichtlichkeit
bis zum Ende seines Lebens an der Qualität des Ganzen zweifeln
und Umarbeitungspläne bis hin zur Zusammenziehung der letzten
zwei Akte zu einem einzigen (zumal der intermezzohafte zweite Akt
immer als etwas schwächer galt) in seinem Kopf Gestalt annehmen
ließ (zur Realisierung solch gravierender Änderungen
kam er nicht mehr). Der bunte Reigen wird schlagartig beendet durch
den Auftritt von Corporal Mors, der das paarweise Abwerfen der Masken
anordnet. Und siehe, Leanders Auserwählte ist identisch mit
der zwischen den Eltern ausgeschacherten Braut. Da kann auch der
schwerenöterische Vatertyrann keins mehr obendrauf setzen.
Das Gesamtausgabe-Unterfangen stieß im Fall der Maskarade
auf einen Berg von Schwierigkeiten, hatte doch Nielsen im Laufe
der Aufführungs- und Akquisitionsgeschichte der nächsten
25 Jahre eine Menge Änderungen und Kürzungen verfügt,
die in zahlreichen, einander teilweise widersprechenden, oft ungenauen
und fehlerhaften Quellen vorliegen. Das sehr informative Vorwort
vermerkt zudem unter der Rubrik Redaktionelles Vorgehen,
dass die Oper innerhalb sehr kurzer Zeit und unter großem
Zeitdruck entstanden ist, was einen Arbeitsablauf nach
sich zog, der einem Glücksspiel gleichkam. Die Relevanz
und Verlässlichkeit der einzelnen Quellen (16 Partituren, Skizzen,
Klavierauszüge und Stimmensätze für die Oper und
8 weitere Quellen zur vielgespielten Ouvertüre, für die
Nielsen einen separaten Konzertschluss komponierte) wird von den
fünf Herausgebern transparent diskutiert. Die unter Nielsens
Observation von C. Rocholl in Bonn gelieferte deutsche Übersetzung
des Librettos ist auch dieser Neuausgabe zugrunde gelegt, wobei
manche stilistischen und sinngemäßen Verbesserungen vorgenommen
wurden. Als unverständlich und vermeidbar zu beanstanden ist,
dass die abschließende Korrekturlesung sämtlicher deutschen
Texte (Libretto und Vorwort) nicht von einer Person vorgenommen
wurde, die wirklich der deutschen Sprache mächtig ist. Davon
zeugen viele dumme Fehlerchen.
Die Partitur des abendfüllenden Dreiakters ist in drei umfangreiche
Bände gegliedert, die in den Kopplungen dänisch-deutsch
und dänisch-englisch erhältlich sind. Ebenso gibt es die
entsprechenden Klavierauszüge. Für die Lektüre des
Kritischen Berichts, veröffentlicht in einem gesonderten Band,
sind Englischkenntnisse Voraussetzung. Dieser enthält überdies
ein Verzeichnis sämtlicher eruierbarer Kürzungen und Umstellungen,
die von Nielsen autorisiert sind, dankenswerterweise auch in sehr
übersichtlicher grafischer Darstellung. Die Herausgeber haben
den Notentext in voller Länge zugänglich gemacht, unter
Einschluss von Nielsens eindeutig verworfener Teile, was schon deshalb
vollkommen berechtigt ist, weil die Maskarade nie ganz
dem Stadium des Work-in-progress entwuchs. So kann nun jeder Dirigent
nachvollziehen, wo Nielsen selbst mit dem Stoff kämpfte und
wie bestimmte Veränderungen motiviert gewesen sein könnten.
Man darf geradezu den Geruch der Schwierigkeiten inhalieren, von
denen man allerdings beim Hören der Musik nichts spüren
wird. So viel Mozartsche und Rossini-hafte Leichtig- und Wendigkeit,
so viel sprühender Witz, solche buffoneske Kapriziosität
in einem nordischen Werk das blieb unübertroffen, auch
wenn es im Norden manches Echo hatte, am offensichtlichsten beim
Schweden Hugo Alfvén. 1907, in seinem Todesjahr, wohnte Edvard
Grieg einer Aufführung der Maskarade bei. Er schrieb
an Nielsen: Was das Ganze anbelangt, so bin ich nicht darüber
im Zweifel, dass dies ein Werk eines neuen Meisters ist, der spricht:
Hier bin ich! Welch feine humoristische Kunst und welche
(...) Konomie in technischer Hinsicht!
Allmählich tritt die Maskarade ihren lange hinausgezögerten
Siegeszug um die Welt an (endlich liegt auch eine Einspielung mit
internationalen Kräften bei Decca vor), und dabei kommt dieser
gründlichen, fundierten Ausgabe entscheidende Bedeutung für
die weiteren Geschicke zu wie überhaupt die Resonanz
auf das Werk Carl Nielsens durch die bei Wilhelm Hansen erscheinende
(in Deutschland von Sikorski vertriebene) Gesamtausgabe künftig
weit grösser und damit seinem Genius angemessener werden wird
(demnächst folgt an dieser Stelle eine Besprechung der GA seiner
sechs Symphonien).