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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 30
50. Jahrgang | Juli/August
Arbeitskreis
Musik in der Jugend
Musik als Schlüsselqualifikation
Ein Vortrag von Prof. Olbertz anlässlich des Arbeitstagung
des AMJ
Alle Welt spricht (endlich wieder!) von Bildung. Warum?
Immer wenn traditionelle Gewissheiten ins Wanken geraten, Zweifel
an überkommenen Orientierungs- und Erklärungsmustern für
diese Welt aufkommen, lässt uns die damit verbundene Verunsicherung
nach verborgenen Ressourcen suchen. Plötzlich werden sie wieder
in uns selbst vermutet. Eine Reihe von Symptomen scheint den Ruf
nach Bildung zu bestätigen von Verhaltensauffälligkeiten
Jugendlicher über gravierende Wissenslücken beim Schulaustritt,
die sich in internationalen schulischen Leistungsvergleichen herausstellen,
bis hin zu sozialen Benachteiligungen mangels beherrschter Kulturtechniken,
mit der Folge eingeschränkter Entscheidungs- und Handlungsspielräume
(etwa bei der Berufswahl).
Bereits seit Mitte der 60er-Jahre ist im Kontext von Überlegungen
zur postindustriellen Gesellschaft von der Wissensgesellschaft
die Rede. Heute erlebt dieser Begriff eine Renaissance, indem immer
größere Aufmerksamkeit dem Wissen und seiner Funktion
in modernen Gesellschaften gewidmet wird. Aber ist es mit Wissen
allein getan? Als 1979 der Club of Rome die Diskrepanz zwischen
der zunehmenden Komplexität aller Verhältnisse und unserer
Fähigkeit, ihr wirksam zu begegnen zum weit reichenden
Dilemma unserer Zeit erklärte, avancierte das Lernen
zum globalen Prob-lem nicht nur im Hinblick auf sich immer
schneller ablösende Lerninhalte, sondern auf Probleme des Lernens
selbst (hinsichtlich seiner Methoden, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen,
Chancen, Formen et cetera). Geht es aber um Bildung, dann besteht
das Problem gar nicht in der ausufernden Quantität menschlichen
Wissens, sondern in seiner Qualität.
Weltwunder, -rätsel, -probleme
Wissenschaftsgeschichtlich lässt sich der dahinter verborgene
Perspektivenwechsel auf menschliches Wissen mit wenigen Schlagwörtern
belegen: Sprach man mit Blick auf die Antike noch von Weltwundern,
so ging es mit der Neuzeit um die Entschlüsselung von Welträtseln
(du Bois-Reymond), während heute mit Fug und Recht
von Weltproblemen die Rede ist, deren Lösung reflektiertem
und verantwortlichem Wissen einen ultimativen Nutzen auferlegt,
oder den Nutzen des Überlebens. Die Weltprobleme,
zu denen der Club of Rome unter anderem die schwindenden E-nergieressourcen,
die globale Umweltverschmutzung, das Bevölkerungswachstum,
soziale Disparitäten und neuerdings auch die Sinnfragen der
menschlichen Existenz zählt, bilden seit einiger Zeit auch
den entscheidenden Anknüpfungspunkt für die Entwicklung
neuer Bildungstheorien. Dabei geht es vor allem um die Frage, woran
Bildung sich orientieren soll.
Mit Bezug auf die Weltprobleme spricht zum Beispiel Wolfgang Klafki
von Schlüsselproblemen, denen eine gleichsam paradigmatische
Funktion innerhalb einer neu zu entwickelnden, bildungsgangübergreifenden
Bildungskonzeption zugeschrieben wird. Mit der Orientierung an solchen
Schlüsselproblemen eröffne sich ein Zugang zu einem neuen,
relevanteren Begriff von Allgemeinbildung: Bildung im Medium
des Allgemeinen. Mit dem Stichwort Allgemeinbildung geht es
um die Basis für die allgemeine Verständigung und damit
Voraussetzung für soziales Handeln, um Orientierung und Sinnfindung
für die eigene Existenz. In diesem Sinne formulierte Klafki:
Allgemeinbildung muss verstanden werden als Aneignung der
die Menschen gemeinsam angehenden Frage- und Problemstellungen ihrer
geschichtlich gewordenen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft
und als Auseinandersetzung mit diesen gemeinsamen Aufgaben, Problemen,
Gefahren. Sein hier verwurzelter Ansatz der Schlüsselqualifikationen
bezieht aus verschiedenen Quellen folgende Kompetenzen als
Zielimplikationen zeitgemäßer Bildung ein:
Der Begriff Schlüsselqualifikationen ist demnach
als Ausdruck für strukturell qualifiziertes und in vernünftige
Handlungszusammenhänge eingebettetes Wissen gemeint.
Wo-rin aber könnte und sollte eine allgemein gültige Konstante
grundlegenden Wissens für alle bestehen? Gehört
es neben Lesen, Schreiben und Rechnen auch dazu, sich in künstlerischen,
musischen Dingen auszukennen?
Wo bleibt das Musische?
Neben dem offenen Problem der Wissensbasierung solcher
Schlüsselqualifikationen überrascht in diesem Konzept
das Fehlen jeglicher musischer Kompetenz. Gerade die
in der zitierten Auflistung mitschwingende Verlegenheit (Henning
Schroer) führt uns das Defizit vor Augen. Musische Defizite
markieren eine durch nichts anderes zu ersetzende Lücke im
Persönlichkeits- und Kompetenzprofil junger Leute ein
Defizit, das zwar durch die Unfähigkeit, sich mit Musik auseinander
zu setzen, sie zu verstehen und sich durch Musik zu artikulieren,
identifizierbar ist, aber zugleich auch in jedem anderen rationalen
und emotionalen Kompetenzbereich der Persönlichkeit fehlt.
Es ist zu vermuten, dass auch die durch internationale Schulleistungsvergleiche
festgestellten Defizite in den naturwissenschaftlichen Fächern
nicht zuletzt auf einen Mangel an musischer Bildung zurückzuführen
sind, denn zum Lösen komplexer Probleme braucht man Fantasie,
Vorstellungsvermögen, geschulte Sinne und die Fähigkeit
zur ganzheitlichen Wahrnehmung. Wir haben es also mit der Frage
nach den pädagogischen beziehungsweise persönlichkeitstheoretischen
Begründungen einer vielseitigen, innerlich ausgewogenen Allgemeinbildung
zu tun.
Warum ist das Musische für die Idee ganzheitlich ausgeglichener
und harmonischer Bildung so wichtig? Vergegenwärtigt man sich
das hier verborgene Potenzial, dann wird deutlich, dass von einem
unverzichtbaren Bestandteil zeitgemäßer Bildung zu reden
ist. Das Bildungspotenzial von Musik entfaltet sich durch
die Relativierung und Ergänzung (sogar Ausweitung) kognitiver
Wahrheiten, auf die sich gerade die Schule ansonsten stützt:
Übung des Empfindens, Hörens, Vernehmens, also der Sensibilisierung
unserer Wahrnehmungen, des Gefühls für Zeit und Rhythmus,
für Klang, Harmonie und Disharmonie und aller damit verbundenen
Ausdrucksmöglichkeiten;
sinnliche Erfahrung, das Gefühl für Transzendenz,
Verbindung und Zusammenhang (gerade in der sich immer stärker
ausdifferenzierenden, aber eben auch zerstückelten Lebens-
und Erfahrungswelt Heranwachsender, die durch Musik wieder zusammengefügt
werden kann);
die Beschäftigung mit dem kulturellen Erbe (Musik als
Quelle kultureller und sozialer Identifikation, Entwicklung von
Vorstellungen über die Lebensweisen und das Lebensgefühl
früherer Generationen, Verstehen der eigenen kulturellen
Herkunft). Dies ist ein ganz besonders wichtiger Aspekt, denn
wer seine eigenen kulturellen Wurzeln nicht kennt, wird alles
Fremde als Bedrohung empfinden. Die kulturelle Bodenlosigkeit
gerade junger Menschen ist eine der Quellen von Fremdenhass und
Gewalt gegen Menschen mit anderer (oder überhaupt mit!) kultureller
Identität, eigener Tradition oder einfach nur anderer Hautfarbe;
Begegnungen mit ihnen verstärken dann die unterschwellig
tief empfundene Verunsicherung und fordern zur Abwehr, notfalls
zur Gewalt, heraus;
die Einbettung von Erlebnis und Erinnerung, die Vertiefung
von emotionalen Eindrücken in der flüchtigen Welt der
Erlebnisgesellschaft;
die Anregung der Selbstreflexion und des kritischen Bewusstseins
nicht zuletzt im Sinne der Auseinandersetzung mit dem Missbrauchs-
potenzial von Musik (Aggressivität, Trance, Musik als Droge
oder Ausstieg aus der Wirklichkeit);
die Überwindung zunehmend monomedialer Bilderwelten hin
zu rezipierten beziehungsweise selbst erzeugten Klangwelten als
Ausdruck individueller Auseinandersetzung (eingeschlossen die
Materialerfahrung beim Einsatz von Instrumenten, zum Beispiel
durch Klang, Klangfarbe, Schwingung, Frequenz, Interferenz und
so weiter);
die soziale Integration durch das Gemeinschaftserleben in der
Musik (im produktiven wie im rezeptiven Sinne)
das musikalischen Aktivitäten innewohnende Rekreationspotenzial
Musik als Quelle von Trost, Glück, Freude, Muße,
Beruhigung in der zeittypischen Beschleunigung und Geschwindigkeit
(im Sinne psychischer Stabilität und Ausgeglichenheit);
Singen: Gesundheit an Leib und Seele, das heißt, Singen,
insbesondere in der Gemeinschaft, trägt zum physischen und
psychischen Wohlbefinden bei.
Aus diesem vielfältigen Bildungswert von Musik
zu schöpfen, sich ganzheitliche Zugänge zur Welt und zu
sich selbst daran zu erschließen, setzt allerdings entsprechende
Anregungen, Erfahrungen und Qualifikationen vo-raus. Ohne Praxis,
ohne musikalisches Wissen und Können lassen sich die in der
Welt der Töne und Klänge verschlüsselten Botschaften
ebenso wenig verstehen wie die Signale, die wir selbst in die Welt
senden wollen, um an ihrem Lauf teilzunehmen. Gerade das Informations-
und Medienzeitalter geht mit einer paradoxen Verminderung
des menschlichen Ausdrucksspektrums einher, eben weil alles
vorgegeben scheint und hinter der Dominanz des Visuellen (oft in
reduzierten Standards, Piktogrammen) zu verschwinden droht.
Die Beschäftigung mit Musik, sei es zur intellektuellen Auseinandersetzung,
zur emotionalen Verinnerlichung oder zum ästhetischen Genuss,
gründet sich also selbst auf eine Schlüsselqualifikation.
Sie ist Quelle der eigenen Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten
anderen Menschen gegenüber und ermöglicht zugleich als
soziale Kompetenz, nicht nur über Musik miteinander sprechen,
sondern auch durch Musik.
Ursachenforschung
Woran liegt es nun, dass musische Kompetenzen, aber auch Bedürfnisse
namentlich bei jungen Menschen so schwach ausgeprägt sind,
warum trifft man sie zum Beispiel in Konzerten, insbesondere in
klassischen, kaum an? Zunächst ganz allgemein gesagt: Es fehlt
Begegnung und Erfahrung im Zusammenhang mit Musik, und es fehlt
natürlich das Wissen.
Solche Probleme und Defizite im Zusammenhang mit der musischen Bildung
liegen meiner Auffassung nach unter anderem:
an der stiefmütterlichen Behandlung des Musikunterrichts
in der Schule, der am ehesten zur Disposition gestellt wird, wenn
zum Beispiel Stunden eingespart werden müssen;
an der verloren gegangenen Alltagspraxis des Singens in der
Schule auch jenseits des Musikunterrichts (ich erinnere
mich zum Beispiel, dass in den 60er-Jahren noch jeder Schultag,
immer in der ersten Stunde, mit einem Lied begonnen wurde, und
das waren auch in der DDR keineswegs nur Kampf- und Arbeiterlieder,
sondern vor allem Kinder- und Volkslieder);
am Fehlen natürlicher Begegnungen mit Singen und Gesang,
seit es kein traditionelles Gemeindeleben mehr gibt (immerhin
wurde in den Kirchen seit Jahrhunderten eine ganz eigene Gesangs-
und Liedkultur gepflegt).
Damit fehlt die Erfahrung regelmäßigen gemeinsamen
Singens, und Ersatzformen haben sich für diese spezielle
Gemeinschaftskultur nicht entwickelt. Diese Situation wird verstärkt
durch postmoderne Tendenzen der Vereinzelung beziehungsweise Individualisierung
schlechthin, das heißt gemeinschaftsfernes Einzelkämpfertum
wird verstärkt, nicht zuletzt übrigens auch durch die
strukturellen Einzelarbeitsplätze der Mediengesellschaft,
die soziale Erlebnisperspektiven eher einengen;
an der Vernachlässigung des pädagogischen Potenzials
der Musik (insbesondere des Singens) in der Lehrerbildung. Vor
allem für die Grundschule ist das gemeinsame Singen ein ganz
ursprüngliches pädagogisches Medium, dessen soziales
Potenzial häufig unterschätzt wird nicht zuletzt
im Hinblick auf die psychische Entlastung der Lehrerinnen und
Lehrer selbst, wenn sie es schaffen, die Energien der Kinder in
gemeinsamem Singen zu bündeln und zu kanalisieren.
Es müsste also deutlich mehr öffentlich geförderte
außerschulische, jedoch schulnahe musikalische (praktische
musikpädagogische) Angebote geben. Das schließt auch
eine profunde schulgesangliche Ausbildung ein, denn viele junge
Leute singen mit mehr als fraglicher Stimm- und Atemtechnik in
irgendwelchen Bands, aber die Voraussetzungen für
gesundes, entspanntes und schönes Singen sind dort selten
gegeben.
Kanon im Kanon
Nicht ohne Grund ist auch im Bildungsdiskurs der jüngsten
Zeit wieder vom Kanon die Rede. Dabei geht es nicht um eine lebensfremde
Addition von vorgeschriebenem und geordnetem Lernstoff, sondern
um das, was zwischen seinen Gliedern schwingt. Schon
im antiken Bildungskanon der septem artes liberales
war die Musik enthalten. Bildungstheoretikern, insbesondere kanonkritischen,
sollte man die Rezeption des Kanonbegriffs der Musik empfehlen:
Dort bezeichnet er eine Form, bei der verschiedene Stimmen in geregelten
Abständen nacheinander einsetzen und sich harmonisch zu einem
Ganzen fügen. Keine darf fehlen. Was für eine schöne
Vorstellung auch für unsere Bildungskonzeption!
Prof. Dr. Jan-Hendrik Olbertz, Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg und Franckesche Stiftungen zu Halle