Das Berio-Projekt zu Bachs Kunst der Fuge auf Europa-Tournee
1999 bat die Europäische Kommission in Brüssel, für
das Bachjahr 2000 eine experimentelle Aktion vorzuschlagen. Davon
fühlte sich auch das Teatro lirico sperimentale di Spoleto
und sein viriler Artistic Director Michelangelo Zurletti
angesprochen.
Seit der Gründung dieses Förderprojekts für Operngesang
durch Adriano Belli 1947 stellt man hier jungen Studienabgängern
und Preisträgern so etwas wie eine Warteschleife mit bester
Betreuung zur Verfügung, bevor der künftige Star zu seiner
Karriere durchstartet. Ab 1993 rundete man diesen Einsatz für
den Fortbestand der Oper durch einen zweijährig ausgetragenen
Kompositions-Wettbewerb für Kammeropern ab. Dieser Kontakt
mit der jungen Komponistenszene baute denn auch die Brücke
zum jetzigen Bach-Projekt, der als Opernloser in Spoleto bislang
auch primär ein Namenloser geblieben war. Zusammen mit Luciano
Berio entwickelte Zurletti die Vision eines europäischen Einheitswerks
und was war da geeigneter als Bachs zeit- und raumenthobene,
exterritoriale Kunst der Fuge? Dem konnte sich auch
Brüssel nicht versagen. Das Unternehmen wurde als Special
European Event of the Year 2000 etikettiert und mit zirka
400.000 Mark aus Europas Töpfen unterfüttert. Dieses musste
dann freilich um ein Jahr Aufschub bitten. Dann aber konnte LArte
della Fuga di J.S. Bach Progetto di trascrizioni e rielaborazione
coordinatto da Luciano Berio von der Uraufführung am
31. Mai in Spoleto weg auf Tournee gehen: zu den künstlerisch
beteiligten Städten Lyon, Den Haag und zum Abschluss London.
Der mitwirkende deutsche Part Leipzig sah sich, vermutlich ermüdet
vom unablässigen Bach-Gewitter des letzten Jahres, aus organisatorischen
Gründen nicht in der Lage, der jungen Kunst der Fuge
stationären Aufenthalt zu geben kein Ruhmesblatt für
die Bach-Stadt an sich.
Luciano Berio.
Foto: Ch. Oswald
Berio hatte, dabei kann man ihm Originalitätsgier wohl kaum
vorwerfen, europäische Kooperation als Grundlage des Projekts
vorgeschlagen. Jeder der 18 Contrapuncti bekam einen anderen Bearbeiter.
Ähnlich wie beim Schlussverkauf hatten die ersten freie Auswahl,
die späteren mussten sich mit dem Verbliebenen auseinander
setzen. Berio selbst hatte sich die letzte, abgebrochene 18. Fuge
reserviert, die belegt, das auch Bach komplexe kontrapunktische
Strukturen nicht einfach aus dem Ärmel schütteln konnte
die Mär, dass ihm hier der Tod die Feder aus der Hand
genommen hätte, ist nicht einmal gut erfunden. Des Weiteren
gab Berio, nachdem man sich auf einen Pool von 30 Instrumenten,
Live-Elektronik und vier Gesangstimmen verständigt hatte, freie
Hand. Man durfte auf Glück, gestützt vom Fingerspitzengefühl
Berios bei der Auswahl, hoffen. Zumindest an einigen Punkten stellte
es sich ein.
Erstaunlich: Mit der Kunst der Fuge haben sich bisher
in erster Linie Interpreten experimentell beschäftigt. Sie
erstellten Versionen, die von radikaler Askese über romantischen
Rausch bis zu poppigen Frechheiten, von der Überzeugung des
einzig Richtigen bis zum schüttelspiel-artigen Laissez faire
reichten. Und der Organist Gerd Zacher packte einst in kühner
Form Clusterverwischungen, Filtertechniken, zeitliche Indeterminationen
oder rhythmische Verwerfungen in Bachs Studien der Mehrstimmigkeit.
Dass Bach all dies zulässt, dass durch alle Eingriffe unerschütterlich
und ehern Substanz durchschimmert, macht eben dieses Werk zu einem
musikgeschichtlich unvergleichlichen.
Dass Berios Projekt unweigerlich von dieser Hintergrundswucht
profitieren würde, mag ihn ermutigt haben, die Komponisten
zu kreativ-freiem Umgang mit dem Text anzuspornen. Und das ad hoc
zusammengestellte Orchester mit dem hässlich-bemühten
Namen O.E.T.Li.S (Orchestra Europea del Teatro Lirico
Sperimentale) nahm unter kundiger, manchmal wohl zu nachgiebiger
Stabführung Marcello Bufalinis diesen Auftrag zu unverbrauchtem
Ton gerne an.
Nun ist es mit Gruppenkompositionen oft eine heikle Sache. Der
Eindruck stellt sich mitunter ein, dass der einzelne Komponist die
Arbeit nicht als eigene betrachtet und in einen allgemeinen, verbindlichen
Ton verfällt. Dadurch rücken auch die Komponisten zusammen,
die Unbekannteren recken sich in die Höhe, die Renommierten
schrauben das Niveau aufs Technische hinab. Heraus kommt ein musikalisches
Großwerk, das formal in den Fugen knirscht, das einen Weg
der Mitte sucht laut Schönberg in der Kunst der einzige
Weg, der nicht zum Ziel führt.
Solche Gefahren waren auch hier zu spüren, einige Komponisten
trauten sich nicht, Bachs Text zumindest den Versuch eines Pendants
entgegenzustellen und orientierten sich besser oder schlechter an
Weberns maßstabsetzender Bachbearbeitung (Ricercare) mit klangfarblicher
Deutung der motivischen Bezüge. Aber immer wieder war dann
auch dreister Witz mit im Spiel, oder auch tiefere Einblicke in
die historischen Pendelschläge des Bachschen Werks. So
war zum Beispiel der radikalspontane holländische Komponist
Louis Andriessen nicht davon abzubringen, dass dieses Werk Bachs
nur für Cembalo geschrieben und zu denken sei. Gerade in seiner
Orchesterbearbeitung suchte er dies nachzuweisen, indem er den Bachschen
Eröffnungssatz ganz dem Cembalo überantwortete und wie
aus fremder Gegenwart matte Orchesterakzente interpolierte. Der
Spanier Luis de Pablo hingegen konfrontierte Bach im anschließenden
Stück (war das Zufall?) mit der Vergangenheit, indem er Contrapunctus
2 und ein Tiento von 1626 scheinbar problemlos ineinander schraubte.
Diese beiden Alten hatten also ein weites Tor aufgetan,
durch das jugendlicher Vorwitz eindringen konnte. Da war Diderik
Wagenaar mit einer aggressiven bis chaotischen Übermalung des
Bachschen Satzes, da verblüffte der junge, 21-jährige
Pole Adam Falkiewicz durch eine ebenso ungestüme, wie subtil
ausgeführte Zersplitterung der Bach-Motive, da führte
ein Komponistentrio aus London die Musik in hard-rockige Kellerregionen,
schließlich verwies der Aust-ralier Andrew Schultz beim 9.
Kontrapunkt darauf, dass auch der strenge Satz der Kunst der
Fuge von einem dahinstürmenden Concerto-Geist getragen
sein kann. Ideal vor der Pause ob Berio hier Fäden gezogen
hat?
Schlichter danach, erst Fabio Nieders Miniaturkantate Das
ewige Licht, Hommage an J.S. Bach und Anton von Webern, setzte
neue Leuchtmarken: Bach zusammengedacht mit Weberns Zwölftonsatz,
durchzogen von spielerischen Gleichgewichtsübungen zwischen
beiden Welten.
Noch einmal Stimmen in Michele Tadinis O Lamm Gottes unschuldig,
hier in elektroakustischer Verformung, die an irreale Stimm- und
Klangwelten Nonos erinnerte. Der Teppich war hiermit ausgelegt für
Berios Abgesang, eine wie abgewandt instrumentierte, schlichte Fassung,
die in ihrer Verdichtung immer katastrophischer wird, bis sie schließlich
auf geräuschhafter Tonreibung im Off stehen bleibt.
A Giuseppe Sinopoli in memoriam fügte Berio hinzu
und verwies darauf, dass ein plötzlich abgerissener musikalischer
Satz doch mit Tod, und sei es mit dem des eigenen Freundes, zu tun
hat.