Uraufführung von Erkki-Sven Tüürs Wallenberg
in Dortmund
Spätestens seit Glasnost und Perestroika hat der ungezwungene
Umgang mit der Moderne auch unter den baltischen Komponisten Hochkonjunktur.
Meditative Klangsinnlichkeit (Arvo Pärt) und die neo-romantische
Neudeutung von Volksmusik (Peteris
Vasks) bilden dabei eine oft von Reibungspunkten befreite Tonsprache,
die kaum mit Atonalem liebäugelt.
Von einer nicht zu erwartenden musiktheatralischen Radikalität
zeigte sich dagegen Erkki-Sven Tüürs erste, am Dortmunder
Opernhaus uraufgeführte Oper Wallenberg, die der
scheidende Intendant John Dew in Auftrag gegeben hatte. Das Philharmonische
Orchester unter Dirigent Alexander Rumpf musste Schwerstarbeit leisten.
Denn in dem düster-expressiven Tonfall, der im ersten Akt in
einer apotheotischen Aggressivität kulminiert, sind Erholungspausen
rar, verschwinden die fein eingewobenen Walzer- und Ländler-Zitate,
die idyllischen Dur-Harmonien so schnell, wie sie gekommen sind.
So hochkomplex, bisweilen überdimensional sich Tüürs
Partitur in den über zwei Stunden bewegt, so erstaunlich theaterpraktikabel
ist sie jedoch für die Opern-Biografie, die Librettist Lutz
Hübner zum Wechselspiel aus geschichtlicher Realität und
Fiktion machte. Lutz Hübner erinnert an den schwedischen Geschäftsmann
und Diplomaten Raoul Wallenberg, der auf Empfehlung des schwedischen
Verbandes des World Jewish Congress und unterstützt vom amerikanischen
War Refugee Board im Juli 1944 vom schwedischen Außenministerium
nach Budapest geschickt worden war. Dort leitete er eine Hilfsaktion
für über 100.000 Juden, die nach der Deportation von 437.000
ungarischen Juden nach Auschwitz in der ungarischen Hauptstadt zurückgeblieben
waren.
Doch Hübner zeichnet nicht nur die historische Gestalt Wallenberg
nach. Er imaginiert zudem einen zweiten Wallenberg, der Balsam für
die Mythenschreibung ist: als strahlender Held, der zum Gewissen
entlastenden Feigenblatt wird für die Schweden, die
Geschäfte mit den Nazis machten, für die Amerikaner, die
Flüchtlinge zurück in den Tod schickten. Auf der kafkaesk
angereicherten Szene (Bühne: Peter Schulz) mit ihren riesigen,
verschiebbaren Wänden und tausenden weißschimmernden
Aktenordnern choreografiert Regisseur Philipp Kochheim schrille
Geschichtsschreibung moderner Prägung, in der Wallenberg mediengerecht
ausgeschlachtet wird.
Gerade in dieser Entertainment-Spirale bewies Tüürs Musik
Rückgrat, da sie die Szenen nicht kommentierend bedient, sondern
Gegenkräfte in stark emotionalen Momentaufnahmen entwickelt.
Vor allem dank der flatternden Melodiefetzen, die den tenoralen
Glanz von Hannes Brock als Wallenberg 2 perforieren und von dem
fantastischen Bariton Hannu Niemelä als eigentlicher Wallenberg
zu einem ständig lodernden Psychogramm konturiert werden.