Die Stelzenfestspiele bei Reuth, gestartet als erstes No-Budget-Kultur-Musik-Festival
Deutschlands, sind in ihrem neunten Jahr ein Fixpunkt im Festivalkalender.
Für einen Geheimtipp, dessen vornehmste Eigenschaft ja das
Geheime ist, sind einfach zu viele Menschen vor Ort. Aus aller Herren
Bundesländer strömten also auch heuer die Musikliebhaber
ins Vogtländische, um die neuesten Kreationen der Herren Schneider,
Stache, Fröhlich und Co. kennen zu lernen. Insgesamt waren
an den drei Tagen knapp 11.500 Festivalgäste im Dörfchen
Stelzen anwesend, die sich für die 20 Konzerte und Performances
begeisterten.
Das ging gleich gut los, mit der Uraufführung der Landmaschinensinfonie
L-ST 210/8, die derart kompakt, sinfonisch wohlgeschliffen und mit
prägnant-agrarischer Kraftentfaltung einen Publikumstaumel
auslöste. Da waren sensationelle Performer im Einsatz, was
die Stelzener Arbeiter und Bauern an ihren ureigenen Geräten
(und an Tischtennisbällen) mit einschloss. Da gab es den multispektakulären
Satz Die Melkmaschine, bei dem eine Kombinatorik von
Live-Aktion (Frau Scheibe molk in echt auf einem Schemel sitzend),
einem Erzähl- und Geräuschpart (hinreißend Herr
Lemke aus Bielefeld) und Videoaufnahmen aus dem Kuhstall ineinander
verwoben wurden. Die Gülleorgel, prima gestimmt, wurde im Quartett
gespielt und ganz am Schluss zündeten zwölf Raketen, um
Gerald Kaiser aus Reuth anzukündigen, der mit ungeschulter
Stimme Nessun dorma in den Nachthimmel schmetterte,
dass selbst kampferprobte Kritiker zum Taschentuche greifen mussten.
In diesem euphorisierenden Stil ging es weiter. Der Harfenist
Kenn J. Ecury bezauberte mit lateinamerikanischen Klängen.
Marcus Becker spielte Mussorgskys Bilder einer Ausstellung
auf einem Steinway. Das große Festspielorchester zelebrierte
Beethovens Achte, die so profund in unseren Breiten vielleicht nur
noch im Leipziger Gewandhaus zu hören ist.
Winnie Böwens Liederrecital (begleitet von Uwe Lohse am Flügel)
war einer Sternstunde der Wahrhaftigkeit. Eisler, Weill und Konsorten
bis hin zu Lortzing und Nyman ertönten in Interpretationen,
die alles klar machten. Winnie Böwe ist in diesem Fach die
derzeit Beste, sowohl in vokaler wie auch schauspielerischer Hinsicht.
Festspieldirektor Henry Schneider, Bratschist im Gewandhausorchester
Leipzig, ließ sich nach historischer Vorlage vom Leipziger
Geigenbauer Matthias Ludwig eine Nagelvioline bauen. Auf diesem
seinerzeit weit verbreiteten Instrument hat Schneider fleißig
geübt.
Mit dem Ergebnis dieser Bemühungen wurde nun das Stelzener
Festspielpublikum im Konzert des New Focus String Trio konfrontiert.
Es erklang eine Originalkomposition aus der Zeit: Wilhelm Friedrich
Rusts 1787 in Dessau uraufgeführtes Quartett für Nagelgeige,
zwei Violinen und Cello. Das Publikum war erst mucksmäuschenstill,
um dann in einen Jubelsturm auszubrechen.
Am Schluss dieser drei Festivaltage fragte man sich, wie es kommen
kann, dass wirklich schwere, anspruchsvolle Musik (1. Wiener Schule,
2. Wiener Schule und die europäische zeitgenössische Avantgarde
waren die Themenschwerpunkte) in Stelzen auf dem Dorf so populär
ist? Da gibt die Festivalleitung kein Pardon in Richtung Publikumsanbiederung.
Nur höchstes Niveau ist erlaubt. Der Berliner Musikprofessor
und Pianist Uwe Lohse, erstmals in Stelzen, konnte es nicht fassen:
Das ist hier eine Insel der Seligen. Wo gibt es das noch?
Nach getaner Arbeit, unter uns gesagt, wir haben noch nie ein solch
gutes Konzert gegeben, sich ins Gras legen und den unsterblichen
Klängen Beethovens, gespielt von Gewandhausmusikern, lauschen.
Der Pianist Marcus Becker aus Hannover (der derzeit mit der ersten
Gesamtaufnahme von Max Regers Klavierwerken für Aufsehen sorgt),
ist in Stelzen gleich allen anderen Künstlern aus Spaß
an der Freude aktiv, denn Gagen werden bei diesem nahezu ohne öffentliche
Gelder auskommenden Festival nicht verteilt. Becker kommt im nächsten
Jahr wieder nach Stelzen, genauso wie Kenn Ecury und natürlich
die umjubelte Winnie Böwe. So haben sich das die Künstler
und das Publikum gewünscht.
Der
Termin der 10. Stelzenfestspiele bei Reuth steht jedenfalls zum
Vormerken bereits fest: 21. bis 23. Juni 2002.