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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 58
50. Jahrgang | Juli/August
Dossier: Neue Wege für junge Ohren
Auf dem Grat zwischen Lehrstunde und Belustigung
Der Vergleich von Kinderkonzerten zeigt vielfältige Möglichkeiten
und gemeinsame Kriterien · Von Ernst Klaus Schneider
Kinderkonzerte können höchst unterschiedlich konzipiert
sein. Vor zwei Jahren erlebte ich ein Konzert, in dem ein Pianist
und ein Clown innerhalb von 60 Minuten einen Überblick über
die Geschichte der Klaviermusik vermitteln wollten von Bach bis
Cage. Das Konzert kulminierte mit der Präparation des Flügels:
unter dem amüsierten Lachen der Kinder warf der Clown seine
Sachen in den Flügel: Klamotten, Waschlappen, Geräte.
Der düpierte Pianist spielte ein Interlude von John Cage. Die
Aufmerksamkeit der Kinder richtete sich ganz auf die Einfälle
des Clowns. Sie gingen belustigt aus dem Konzert. Das Gegenbeispiel
war eine Lehrstunde zur Instrumentenkunde mit Brittens Guide
to the Orchestra. Aus meiner Sicht sollen Konzerte weder pädagogische
Veranstaltungen sein noch reines Entertainment bieten.
Ernst Klaus Schneider bei
seinem mit Videoausschnitten unterstützten Workshop in
Weikersheim.
Foto: Felix Röttger
Im Folgenden möchte ich drei unterschiedliche Konzeptionen
für Konzerte vorführen, bei denen zwei wichtige Komponenten
zum Tragen kommen: Kinder konnten Musik erleben und zugleich etwas
über die Musik erfahren. Es geht dabei nicht um gute oder schlechte
Konzerte. Ich möchte mit dem Vergleich vielmehr der Spur folgen,
die Paul Klee seinen Kunststudenten empfahl: Wir untersuchen
die Wege, die ein anderer beim Schaffen seines Werkes ging, um durch
die Bekanntschaft mit den Wegen selber in Gang zu kommen.
Detmolder Familienkonzert
Die Familienkonzerte der Hochschule für Musik Detmold (Studiengang
Pilotprojekt Musikvermittlung) sind Veranstaltungen
für die ganze Familie, für Kinder mit ihren Eltern und
Verwandten; sie werden regelmäßig auch von Älteren
ohne Anhang besucht. So trifft sich drei- bis viermal im Jahr, sonntags
zwischen 11.15 und 12.15 Uhr, in der Neuen Aula der Musikhochschule
ein in Erwartung und Voraussetzung höchst unterschiedlich gemischtes
Pub- likum, um sich anzuhören, was eine Musikhochschule anbieten
kann: Klassische Musik im weitesten Sinne bis hin zur
Neuen Musik und zum Jazz (1).
In dem von mir konzipierten Familienkonzert am 29. April 2001
wurde unter dem Motto ...bis es stimmt thematisiert,
was man alles mit der Stimme und seinem Mundwerk machen kann: singen
und sprechen, flüstern, schnalzen, heulen, jammern et cetera.
Es sollte erfahrbar werden, wie die stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten
des Menschen in der Musik zur Geltung kommen können. Das Programm
umfasste ein weites Spektrum: Einen vierstimmigen Satz aus dem 16.
Jahrhundert, einen Kanon im Stile Populärer Musik, ein von
Schülern entwickeltes Sprechstück Eismix,
die Sequenza III von Luciano Berio, eine kurze Theaterszene zum
Thema Sich in einer misslichen Situation herausreden
sowie die Gärtner-Szene aus Mozarts Hochzeit des Figaro,
in der Figaro sich herausreden muss. In diesem thematisch zusammengestellten
Programm ergab sich ein Kaleidoskop sehr verschiedener Möglichkeiten
des Umgangs mit der Stimme, wobei Musik aus alter wie neuer Zeit
einbezogen wurde. Ausführende waren vier Jugendliche aus einer
7. Klasse und Studierende der Hochschule. Das Konzert wurde moderiert.
Es war in drei Phasen gegliedert:
Phase 1: Der Konzertbesuch begann bereits in den Vorräumen
der Aula, die für die Familienkonzerte in besonderer Weise
eingerichtet werden: Diesmal hingen allenthalben Schilder mit Aufschriften
wie Flüstern, Heulen, Singen,
Jammern, Rufen, Seufzen... Sie
dienten der Hinführung und Einstimmung auf das, was dann im
Konzert zu hören war.
Phase 2: Die vier Jugendlichen sangen von der Bühne
den vierstimmigen Satz und erzählten, wie sie zum Singen gekommen
sind. Sie führten vor, wie aus vier eigenständigen Stimmen
ein Zusammenklang entsteht. Beim Kanon wurde das Publikum durch
Mitklatschen eines Rhythmus einbezogen. Bei dem Stück Eismix
schließlich wurde das Publikum mit einem eigenen Stimmpart
integriert. An bestimmten Stellen des Sprechstücks wurde es
mit großen Schildern zu Stimmäußerungen animiert,
die in der traditionellen Musik ungewöhnlich sind, in der Neuen
Musik aber, vor allem auch in dem Stück von Berio genutzt werden:
Mit großer Anteilnahme schnalzten, seufzten, flüsterten,
summten fast 600 Menschen, wenn sie mit ihrem Part an der Reihe
waren. Während der Beifall abklang, betrat eine Sängerin
die Bühne und begann im Hereinkommen mit dem Vortrag der Sequenza
III von Luciano Berio mit ihrer Fülle von stimmlichen
Ausdrucksmöglichkeiten. Während der Darbietung hörte
das Publikum aufmerksam zu; an den Reaktionen war die Anteilnahme
gut zu erkennen. Kinder wie Erwachsene waren begeistert. Es war
gelungen, ein Stück Neuer Musik in den Horizont dieser Hörer
zu rücken.
Phase 3: Im zweiten Teil des Konzerts wurde mit der Anknüpfung
an Alltagserfahrungen ein ganz anderer Weg der Musikvermittlung
erprobt: Jedermann hat Erfahrungen mit dem Sich-Herausreden und
besitzt ein entsprechendes Verhaltensrepertoire (Warten, länger
nach Antwort suchen, den Wahrheitsgehalt der Aussage bezweifeln,
ablenken et cetera ). Und Herausreden muss sich auch der Figaro
in der Gärtner-Szene aus Mozarts Figaro. Diese
Verhaltensweisen haben in der Musik Mozarts (in Tönen!) ihren
Niederschlag gefunden. Dies lässt sich in musikalischen Gestaltung
der Vokal- wie Instrumentalparts auf anschauliche Weise zeigen.
Nach einer von Schülern auf der Bühne gespielten Schulszene,
in der ein Schüler vom Lehrer einem peinlichen Verhör
unterzogen wird und sich erfolgreich herausredet, wurden am musikalischen
Detail Entsprechungen in der Oper deutlich gemacht, mit denen Mozart
diese Situation in die Musik selbst überträgt. Im Hinführungsteil
wurde das Publikum mit bestimmten Armbewegungen einbezogen. Schließlich
erklang in einer szenischen Aufführung die ganze Szene aus
Mozarts Figaro mit Solisten und Orchester.
Aus dem Vorgehen im Konzert ergeben sich Leitlinien der Konzeption:
Ich suche nach Treffpunkten zwischen Mensch und Musik. Ich knüpfe
an allgemeine Erfahrungen an. Dabei soll ein Doppeltes geschehen:
Kinder wie Erwachsene sollen einerseits etwas erfahren über
sich und über ihre Welt, andererseits auch über die Musik
und über die Lebenswelt, aus der die Musik erwachsen ist. Stets
soll deutlich werden, dass jeder für das Verstehen von Musik
viele Vor-Erfahrungen mitbringt und dass Musik mit unserem Leben
verbunden ist. Das erfahrungsbezogene Vorgehen führt zur genauen
Beobachtung der Musik, ohne dass eine übliche Musikanalyse
vorgetragen wird.
Das musikalische Angebot ist stilistisch vielfältig. Es soll
Musik erklingen, mit der anhaltend zu beschäftigen sich
lohnt; die Musik muss in Länge, Ausdruckswechsel und
Tempo dem Aufnahmevermögen von Kindern entsprechen. Dies sind
keine objektiven Kriterien, sondern Erfahrungswerte. Die erklingende
Musik ist stets auch Musik für Erwachsene.
Das Interesse an Sachen ist unlösbar verbunden mit dem Interesse
an Personen. Deswegen integriere ich in die Konzerte Kinder und
Jugendliche, die im Konzert vorführen, was sie entwi- ckelt
und vorführreif entwickelt haben. Bei solchen Darbietungen
herrscht im Saal bei Kindern wie Erwachsenen meist ungeteilte Aufmerksamkeit.
Zugleich weckt die Vorführung bei den nicht beteiligten Kindern
den Zuspruch aus: das können wir auch.
Die intensivsten Arten, für Kinder einen Kontakt zu einer
ihnen unbekannten Musik herzustellen, sind das eigene Singen, das
eigene Spielen und das Sich-Bewegen zur Musik. Je nach Zusammenhang
beziehe ich das Publikum mit eigenen musikalischen Aktivitäten
ein. Mein Anliegen ist es, in einzelnen Phasen zu einem gemeinsamen
Musizieren von Musikern auf der Bühne und den Kindern im Saal
zu kommen (2). Mitmachaktionen fördern die Bereitschaft, sich
auf eine fremde Musik einzulassen. Ich wähle ein mittleres
Aktionstempo und lasse zwischen den einzelnen Programmpunkten Übergangszeit.
Die Sprech-anteile versuche ich kurz zu halten. Fragen an das Publikum
sind selten.
Die Konzertkonzeption benötigt intensive und langfristige
Vorbereitungszeit, weil Schülergruppen mitwirken. Der Aufwand
ist groß. Doch es wird ein äußerst positives Ergebnis
erreicht: Die Brückenbildung zwischen den Institutionen Hochschule
und Schule sowie die verantwortliche Teilnahme der Kinder am Konzert
öffnet den Konzertsaal für weite Kreise. Die Mitwirkenden
erleben eine Musikvermittlung, die sie kaum vergessen werden. Der
Unterricht in der Schule gewinnt neue Perspektiven.
Sturm an den Mundstücken
Ein gänzlich anderes, in sich schlüssiges Konzept der
Gruppe Les Bons Becs erlebte ich beim Kinderkonzertkongress
der Jeunesses Musicales France 1999 in Paris. Vier Klarinettis-ten
und ein Schlagzeuger gestalteten unter dem Titel Tempête
sur les anches ein höchst abwechslungsreiches Konzert,
das ohne Moderation durchgeführt wurde und dennoch zeigte,
wie nonverbal auf vielfältige Weise Kinder zum genauen Zuhören
auch auf die Details der Musik animiert werden können. Angeboten
wurde ein Potpourri-Programm mit Stücken für Erwachsene:
Das Perpetuum mobile von Johann Strauß Sohn, ein Stück
von Piazzolla, eines von Satie, Pink Panther von Mancini, Stücke
von Gersh- win und Beethoven in Arrangements für das Ensemble.
Das stilistisch vielfältige Programm lief wie ein normales
Konzert ab, also ohne Einzelvorstellung von Ausschnitten.
Das Besondere dieses Konzert war , dass ganz eigene Vermittlungswege
genutzt wurden. An die Stelle einer Moderation mit Worten traten
andere Mittel der Hinführung zur Musik. Die Beleuchtung der
Bühne wechselte entsprechend sich ändernder Situationen.
Einzelne Musiker wurden entsprechend ihrer Rolle im Ensemble ins
rechte Licht gerückt. Bewegungen auf der Bühne, Körpergesten
und szenische Anlage dienten in immer neuer Weise dazu, die Aufmerksamkeit
der Kinder auf bestimmte Aspekte zu richten. Es war eine bis ins
Detail hinein durchinszenierte Darbietung: Über die körperlich
sichtbare Hinwendung zu dem Spieler, der die Hauptstimme übernommen
hatte, wurden Strukturen der Musik oder unterschiedliche Rollen
der Instrumente hervorgehoben und damit hör- und sichtbar.
Durch die Stellung im Bühnenraum und durch Körperhaltungen
wurden Ausdrucksdimensionen der Musik anschaulich und als menschlicher
Ausdruck nachvollziehbar. Durch das Erzählen von Geschichten
in Form von pantomimischen Szenen wurde auf vergnügliche Weise
deutlich, dass in der Musik inneres wie äußeres Geschehen
und damit allgemeine Erfahrungen des Menschen zum Ausdruck kommen
können.
Ruhig wurde Stück an Stück gereiht. Wie in normalen Konzerten
gab es zwischen den Sätzen kurze Pausen als stille Übergänge.
Zu jedem Programmpunkt wurden neue Aspekte der Musik herausgestellt,
ständig wechselten die Methoden. Klar in der Gliederung, zügig
und ohne Hektik im Ablauf, professionell in der Darbietung, gespickt
mit Showeinlagen und Lichteffekten wurde das Konzert für ein
großes Kinderpublikum zu einem Konzerterlebnis. Zugleich konnten
sie nachvollziehen, was alles in einer Musik stecken kann. Kinder
hatten zugleich viel über die Musik und über das Musizieren
erfahren. Begeisterter Beifall dankte den Musikern.
Die Planung und Durchführung einer solchen Konzertkonzeption
ist ganz außerordentlich aufwändig. Die Musiker müssen
auswendig musizieren. Bühnentechniker sind beteiligt. Solche
Konzeptionen lassen sich nur durchführen, wenn eine größere
Anzahl von Konzerten geplant ist. Einzelelemente lassen sich als
methodisches Repertoire gut in andere Kinderkonzerte einbeziehen.
Die Geschichte von Babar
Auf dem Programm dieses Orchesterkonzerts der Jeunesses Musicales
Belgique in der Reihe Orchestre à la portée
des enfants in Lüttich am 21. Feb-ruar 1997 stand L´histoire
de Babar von Francis Poulenc und Jean Françaix. Das
Konzert gliederte sich in einen ersten Abschnitt mit der Hinführung
zum Werk und einen zweiten Teil, in dem das ganze Werk in der Orchesterfassung
aufgeführt wurde. Der Dirigent und eine Moderatorin übernahmen
gemeinsam die Hinführung zum Stück.
Dieser Teil stand ganz im Bann einer äußerst lebendigen
Moderation mit vielen Späßen und Gags. Schon die Vorstellung
von Dirigent, Moderatorin, Pianist und Orchester war als Sketch
angelegt und diente dazu, Kontakte mit dem Publikum (Kinder und
Eltern) zu stiften, Schwellenängste abzubauen und den Eindruck
zu wecken, dass alle im Saal etwas zum Gelingen des Konzerts beitragen.
In einem genau abgestimmten Ablauf warfen sich Dirigent und Moderatorin
die Bälle zu. Ständig wurden mit hohem Tempo Fragen an
das Publikum gestellt, um die Geschichte von Barbar in Erinnerung
zu rufen und vorzustellen. Momente der Ruhe oder Besinnung hatten
nur geringen Raum. Aus dem Miteinander auf der sprachlichen Ebene
entwickelte sich sodann ein Miteinander im Musikalischen. Das Babar-Lied
wurde über die Methode des Vor- und Nachsingens einstudiert
und schließlich von allen Zuhörern mit Begleitung des
Orchesters gesungen.
Nachdem alle Kinder die Erzählung von Babar kannten und das
Lied singen konnten, wurde die Aufmerksamkeit der Kinder auf die
musikalischen Mittel gelenkt, mit denen die Personen und das Geschehen
in der Musik dargestellt werden. Details der Musik wurden klingend
vorgeführt, in Zusammenhänge gestellt und die Verknüpfung
außermusikalischer Vorgänge mit der musikalischen Gestaltung
verdeutlicht. Sogar der geschichtliche Kontext des Stückes
wurde erwähnt.
Schließlich wurde Die Geschichte von Babar wie
in einem normalen Konzert aufgeführt.
Eine solche Kinderkonzertkonzeption ist gut übertragbar und
wäre mit anderen Orchestern in gleicher Weise durchführbar.
Ihr liegt ein sorgfältiger, kindgemäßer und bis
in die Einzelheiten hinein abgestimmter Plan des Dirigenten und
der Moderatorin zugrunde, der von den beiden in lebendiger Weise
umgesetzt wird. Für das Orchester ist als Minimum eine einzige
Probe notwendig, um einen nahtlosen Ablauf zu sichern.
Fazit
Der Vergleich von lediglich drei Kinderkonzerten zeigt schon eine
große Vielfalt von Möglichkeiten bei der inhaltlichen
und methodischen Gestaltung: Offene Programmauswahl oder Beschränkung
auf Stücke, die sich bewährt haben? Verbale oder auch
nonverbale Moderation? Durchgehend hohes Aktionstempo oder Wechsel
von Aktivierungs- und Ruhephasen? Einbezug des Publikums und Mitgestaltung
durch Kinder? Trotz aller Unterschiede zeigen sich zwischen den
Konzerten Gemeinsamkeiten: Zeitlich nicht zu sehr ausgedehnte Stücke,
mehrfacher Wechsel der Methoden und Aspekte, Bemühen um Anschaulichkeit
und um Genauigkeit im Umgang mit der Musik, Vermeiden einer engen
Fachsprache, klare Phasierung, Beschränkung in der Hinführung
auf exemplarische Stellen, Bemühen um Aktivierung der Zuhörer.
Aus diesen Gemeinsamkeiten und aus dieser Vielfalt der Möglichkeiten
lässt sich freilich ein optimales Kinderkonzert
nicht ableiten. Denn nicht Sachzwänge oder objektive Tatbestände
allein bestimmen die Planung und Durchführung, sondern im Kontext
der aktuellen Situation zu treffende Entscheidungen, die die vielfältigen
Bedingungen zu berücksichtigen haben und ohne persönliche
Wertungen nicht auskommen.
(1) Ausführlich bei Ernst Klaus Schneider: Ein Kaleidoskop
von Umgangsweisen mit Musik. Vermittlungsformen in Detmolder Familienkonzerten,
in: Franz Niermann (Hrsg.), Erlebnis und Erfahrung im Prozess
des Musiklernens. Festschrift für Chris- toph Richter, Augsburg
1999, S. 8291
(2) Franz Amrhein: Sensomotorisches Lernen als Basis für
musikalisches Lernen, in: Diskussion Musikpädagogik 8/00,
S. 1225