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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 5
50. Jahrgang | Juli/August
Feature
Komponieren für die Musikgeschichte
Zum 50. Todestag Arnold Schönbergs: Sigfried Schibli im
Gespräch mit Leonard Stein
Leonard Stein, geboren am 1. Dezember 1916 in Los Angeles, ist
als engster Mitarbeiter Arnold Schönbergs bekannt geworden.
Mit seinem Herausgeber-Namen sind die theoretischen Spätschriften
aus Schönbergs amerikanischer Zeit verbunden. Stein hatte unmittelbar
nach Schönbergs Emigration aus Berlin an der University of
Southern California und an der University of California in Los Angeles
bei Schönberg zu studieren begonnen. Der auch als Pianist ausgebildete
Stein spielte schon 1940 in der Öffentlichkeit Klavierkompositionen
von Schönberg. 1949 bestritt er mit Adolf Koldofsky die Uraufführung
der Violin-Fantasie op. 47 von Schönberg. Mit Eduard Steuermann
trug er das Klavierkonzert in der vierhändigen Fassung dem
Komponis- ten vor. Er war Teaching Assistant (Lehrassistent) von
Schönberg an der University of California Los Angeles, wurde
1965 promoviert und lehrte an verschiedenen Colleges. Von 1974 bis
1991 war Stein Direktor des Arnold Schoenberg Institute in Los Angeles.
Sigfried Schibli: Herr Stein, stimmt es, dass Schönberg
nur klassische Werke unterrichtete und keine modernen, insbesondere
nicht seine eigenen?
Kannte Schönberg beinahe
zwei Jahrzehnte: Leonard Stein. Foto: J.P. Lienhard
Leonard Stein: Ja, er war tatsächlich aus praktischen
Gründen dazu gezwungen. Ich kann mich nur an wenige Gelegenheiten
erinnern, als er seine eigenen Werke analysierte. Seine bedeutendste
Vorlesung war der Vortrag Komposition mit zwölf Tönen.
Doch darin ging er nicht in die Theorie, er erklärte mehr
durch klangliche Illustration, durch Beispiele. Und als ich sein
Diktat für seinen Vortrag über Zwölftonkomposition
aufnahm, sagte er dazu, dies sei mehr eine Hypothese als eine
Theorie.
Schibli: Welches Verhältnis hatte Schönberg zu
seinen eigenen tonalen Frühwerken wie Verklärte
Nacht oder Pelleas und Melisande?
Stein: Er ging sie im Unterricht regelmäßig
durch, auch im Aufsatz Selbstanalyse von 1948. Dort
beschreibt er die unterschiedlichen Stationen seiner eigenen Entwicklung,
vom Brahms-Wagner-Stil der sequenzierenden Wiederholung über
die von ihm so genannte entwickelnde Variation bis zu dem, was
er Kondensation und Juxtaposition (Verdichtung
und Aneinanderreihung) nannte, zum Beispiel im Streichtrio.
Er war sich des evolutionären Prozesses in seinem Schaffen
wohl bewusst. Evolutionär, nicht revolutionär!
Schibli: Mehr als dieses evolutionäre Moment fällt
einem in Schönbergs uvre die außerordentliche Vielfalt
auf, wenn man etwa die Brettl-Lieder und die Orchestervariationen
oder Moses und Aron und die kurzen Klavierstücke
nebeneinander hält da scheint es fast keine kompositorische
Identität zu geben.
Stein: Nein, er zieht ganz klar seine Entwicklung durch
jede dieser Phasen, die tonale, die atonale, die Zwölfton-Phase.
Das ist wie ein Pfad.
Schibli: Ist das nicht auch ein Stück Schönberg-ldeologie?
Stein: Nein, er sagte zugleich, als er die erste Kammersinfonie
schrieb, habe er seinen Stil gefunden. Dann entdeckte er die Dichtung
von Stefan George, schrieb die Klavierstücke op. 11 und so
weiter.
Schibli: Seine späten tonalen Werke sind schwer zu
verstehen.
Stein: Ja, das ist sehr komplexe Musik, die aber immer
um ein tonales Zentrum herum gebaut ist. Aber auch schon in Schönbergs
Frühwerken hat man oft das Gefühl, es werde unablässig
moduliert. Als wir gemeinsam am Buch Structural Functions
of Analysis arbeiteten, da entwarf Schönberg eine Art
Theorie, die ich dann ausarbeiten musste... Er schritt vor von
Region zu Region, wie er sagte, ging ans Klavier und ging von
Tonika zur Moll-Mediante zur verminderten Quinte, und ich musste
das alles notieren. Er spielte, und ich schrieb es auf. Das setzte
ein sehr gutes Gehör voraus. Also kurz gesagt, er studierte
Probleme der Tonalität, Structural Functions of the
Harmony.
Schibli: Die meisten Musikfreunde lieben das Frühwerk
Schönbergs, Verklärte Nacht, die Gurrelieder.
Das Spätwerk ist viel weniger populär geworden. Litt Schönberg
darunter?
Stein: Ich denke schon. Aber er legte sich zugleich eine
Art Resignation zu. Anlässlich seines 75. Geburtstags 1949
sagte er, dass er zu seinen Lebzeiten nicht mit allgemeiner Wertschätzung
seinem Werk gegenüber rechnen könne.
Schibli: Ist Schönbergs Musik für Sie ein Endpunkt
oder ein Anfang zu etwas Neuem?
Stein: Sie ist beides. Er verglich sich mit Bach, ein
Ende und ein Anfang.
Schibli: Sie haben als Pianist viel Schönberg gespielt,
zum Beispiel die Brettl-Lieder und andere frühe
Lieder mit der Sängerin Mami Nixon. Sie zeigen Schönberg
als erstaunlich witzigen Entertainer. Warum ging er diesen Weg nicht
weiter?
Stein: Er hat, um Geld zu verdienen, ungefähr 6.000
Seiten Wiener Operettenmusik kopiert... Das half ihm später
insgeheim, er kannte diese Art Musik, und sie blitzt in manchen
seiner späteren Werke auf wie in der Serenade...
Schibli: ...im Pierrot lunaire...
Stein: ... ja, auch im Streichtrio, in der Suite op.
29, wo er das Volkslied Ännchen von Tharau zitiert.
Er kannte den Wiener Dialekt ganz genau. Es war in der Zeit seiner
zweiten Eheschließung, und er widmete das seiner jungen
Frau Gertrud und Wien. Er hatte wirklich viel Humor. Wie Beethoven,
viel Ernst und viel Humor! Manchmal ist das in der Zwölftonmusik
nicht leicht zu finden wie im letzten Satz des dritten Streichquartetts,
das für den musikalischen Kenner in Dur-Phrasen geschrieben
ist. Man kann wirklich nicht sagen, das sei nicht humorvoll.
Schibli: Zu seinen amerikanischen Schülern zählte
ein so bahnbrechender Komponist wie John Cage.
Stein: Für kurze Zeit, ja. Aber Cage war zu jener
Zeit kein wirklicher Komponist, er lernte nur ein bisschen Kontrapunkt.
Schibli: Welches ist für Sie die logische
Fortsetzung der Ästhetik Schönbergs?
Stein: Nach dem Tod Schönbergs kannte man die seriellen
Verfahrensweisen Weberns und des späten Strawinsky besser
als die Zwölftonmethode Schönbergs. Es brauchte einige
Zeit, aber sie wurde dann doch an den Universitäten gelehrt.
Spätere Komponisten wie Boulez und Stockhausen interessierten
sich weniger für die Zwölftonwerke Schönbergs als
für die so genannten atonalen Werke.
Schibli: Pierre Boulez verkündete programmatisch:
Schönberg ist tot, aber Strawinsky bleibt.
Stein: Oh, das war gute Werbung für ihn selbst!
Ich war erstaunt, als er zum ersten Mal nach Südkalifornien
kam, das war 1957, und sagte, er möge die Zwölftonwerke
Schönbergs nicht besonders, Schönberg habe nicht wirklich
zwölftönig komponiert. Da sagte ich zu mir selbst: Eines
Tages wird er sie alle auch dirigieren... Und so kam es.
Schibli: Könnte man sagen: Das Werk Schönbergs
ist als Ganzes wie eine Zwölftonreihe, es darf kein Ton wiederholt
werden, bis alle anderen dran waren?
Stein: Ja, jedes seiner Werke steht für sich selbst.
Und was mich eigentlich erstaunt, ist, dass seine Musik heute
besser verstanden wird als zu seinen Lebzeiten. Es ist eine Frage
der Gewöhnung. Das Klavierkonzert von Schönberg zum
Beispiel wird heute von sehr vielen Pianisten gespielt, von Leuten
wie Emanuel Ax und von vielen jungen Pianisten.
Schibli: Man sagt vom Klavierkonzert, es sei wie Brahms
mit Zwölfton-Harmonik. Stimmt das?
Stein: Nun, es fällt in eine seltsame Kategorie,
vielleicht. Es beginnt mit einem simplen Walzer und hat eine sehr
traditionelle Form und traditionelle Phrasen. Deshalb spielt ein
Pianist wie Alfred Brendel, der sonst nie moderne Musik spielt,
das Klavierkonzert von Schönberg.
Schibli: Schönberg lebte in Los Angeles nicht weit
von Strawinsky entfernt.
Stein: Ja, wir hatten damals um 1942 zwei der bedeutendsten
Komponisten der Zeit bei uns, Schönberg und Strawinsky, und
wir konnten jedes Jahr ihre jeweils neuen Werke hören. Sie
hatten nicht viel Kontakt miteinander, und ich weiß natürlich
nicht genau, worüber sie sprachen. Strawinsky war eher auf
das Publikum angewiesen als Schönberg, er brauchte die Gesellschaft
von Künstlern und Schriftstellern und später, als er
mehr Zwölftonmusik schrieb, auch von Hochschulangehörigen.
Schönberg dagegen komponierte mehr für die Geschichte
als für Hörer.
Schibli: Stimmen Sie mit Adorno überein, dass diese
beiden Komponisten den wesentlichen dialektischen Gegensatz in der
Musik des 20. Jahrhunderts bilden?
Stein: Ja, das gilt sicher für den neoklassizistischen
Strawinsky. Aber auch Schönberg schrieb neoklassische Werke
wie die Klaviersuite, das Bläserquintett oder das Violinkonzert.
Schibli: Strawinsky näherte sich mehr Schönberg
als umgekehrt.
Stein: Ja, das denke ich auch. Sehen Sie, als wir 1954
für eine Plattenaufnahme die Suite für sieben Instrumente
op. 29 von Schönberg einstudierten ich spielte dabei
das Klavier , kam Strawinsky meistens zu den Proben. Und
ein Jahr später schrieb er sein eigenes Septett... Es ist
ein ganz anderes Stück, aber er lernte viel von Schönbergs
Partitur. Robert Craft brachte ihn dazu. Er studierte sicher mehr
Schönberg als umgekehrt.
Schibli: Sie kennen sicherlich das Schönberg Center
in Wien.
Stein: Ja, sie haben es mir gestohlen... (lacht). Nun,
Sie wissen, dass ich 17 Jahre lang Direktor des Schoenberg Institute
in Los Angeles war. Und nachdem ich pensioniert worden war, brachte
mein Nachfolger, den ich nicht mit Namen nennen möchte, die
ganze Geschichte herunter. Es war nicht meine Schuld. Es gab deswegen
viele Auseinandersetzungen mit den Schönberg-Erben, aber
jetzt ist alles ausgebügelt.
Schibli: Haben Sie sich damit abgefunden, dass die Sachen
jetzt in Wien sind?
Stein: Viele denken, dass das eine große Blamage
ist, dass der Nachlass Schönbergs Amerika verlassen hat.
Schibli: Wien hat in der Vergangenheit nicht sehr viel
für Schönberg getan.
Stein: Die Erben sind sich sehr wohl bewusst, was Wien
in Schönbergs Leben bedeutete. Aber sie haben einen guten
Deal gemacht. Das Schönberg Center ist wunderbar geworden,
und sein Leiter Christian Meyer ist sehr klug und macht ein interessantes
Programm.
Schibli: Ein berühmtes Buch über Schönberg
heißt Der konservative Revolutionär. Was
ist er für Sie mehr, der Bewahrer oder der Umstürzler?
Stein: Er dachte selbst, dass er einen Weg weiterverfolgte,
der in der klassischen Musik wurzelte. Das war seine eigene Vorstellung.
Er sagte später, dass er eine Verpflichtung hatte, so zu
verfahren. Sie kennen ja sicher die Geschichte aus dem Militär.
Als Schönberg gefragt wurde, ob er wirklich der Komponist
Arnold Schönberg sei, hat er geantwortet: Einer hat
es sein müssen, keiner hat es sein wollen, so habe ich mich
dazu hergegeben.
Schibli: Dieser Begriff der Pflicht ist typisch für
Schönberg und auch typisch deutsch.
Stein: Ja, in keiner anderen Sprache könnte man
das sagen.
Schibli: Haben die Komponisten heute eine Verpflichtung?
Stein: Ich glaube nicht, dass ein hervorragender Mann
wie Boulez das heute so sieht. Und dennoch folgt auch er einer
bestimmten Entwicklung, einer Logik.
Schibli: Und die heute berühmten amerikanischen Komponisten
wie Phil Glass oder John Adams?
Stein: Meiner Meinung nach schreiben sie interessante
Musik, aber sie haben nicht die starke Persönlichkeit, die
Bartók oder Schönberg oder Strawinsky hatten. Einer
meiner besten Freunde ist Elliott Carter. Er folgt mehr oder weniger
eng dem Weg von Schönberg und Strawinsky. Er entwickelt sich
konsequent von den ersten Werken, die er bei Nadia Boulanger schrieb,
weiter. Er ist einer der wenigen Komponisten heute, die sich wirklich
konsequent auf das einlassen, was sie tun.
Schibli: Was ist das Problem der heutigen Komponisten?
Dass heute alles möglich ist?
Stein: Ja, und dass sie zu viel Musik hören! Schönberg
hörte manche seiner eigenen Werke nur ein einziges Mal, und
es gab von einigen gar keine Aufnahmen. Die Orgel-Variationen
hörte er zum Beispiel gar nie integral. Heute gibt es von
allem Aufnahmen. Ich habe viel Sympathien für die jungen
Komponisten. Aber sie müssen ihren eigenen Weg finden.