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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 26
50. Jahrgang | Juli/August
Hochschule
Italienische Dependance
Kölner Hochschule eröffnet Europäische Akademie
in Montepulciano
Jahrhundertelang war das toskanische Hügelstädtchen
Montepulciano Mittelpunkt eines geopolitischen Interessenkonflikts
zwischen Siena und Florenz gewesen. Neben einer reichen Renaissance-Architektur
blieb der Stadt aus dieser goldenen Zeit vor allem eine herausragende
Weinbautradition erhalten. Auf den Hügeln rund um Montepulciano
gedeiht noch heute einer der Spitzenweine Italiens, der vino nobile.
Abgesehen davon war die ehemalige Heimatstadt des Dichters und Humanisten
Angelo Ambrogini, genannt Poliziano, in Vergessenheit geraten
die jungen Leute zog es in die großen Städte. Bis 1976
Hans Werner Henze kam und dort zusammen mit Freunden und interessierten
Bürgern den Cantiere Internazionale dellArte
gründete und damit den Versuch unternahm, seine Vision eines
erweiterten Kunstbegriffs in die Realität umzusetzen.
Der renovierte Palazzo Ricci
wirkt wieder repräsentativ und hat dennoch seinen Charme
behalten: Heute finden in insgesamt 27 Räumen Kammermusikensembles
oder kleiner besetzte Kammerorchester Platz. Foto: Ira Vinokurova
Letztlich holte ihn und seine Mitträumer die Realität
auch im abgelegenen Montepulciano ein. Heute existiert der Cantiere
nur mehr in einer Rumpfversion, die mit der ursprünglichen
Idee einer Kulturwerkstatt für junge Musiker aus Europa, die
sich gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung an zeitgenössischen
Musikprojekten versuchen, nicht mehr viel gemein hat.
Doch Henzes bildungspolitische Ideen wirken bis in die Gegenwart:
Mit dem neu renovierten Palazzo Ricci, nur wenige Schritte vom historischen
Zentrum Montepulcianos entfernt, ist die Kölner Hochschule
die erste deutsche Musikhochschule mit einem Institut in Italien.
Zur Eröffnung der Europäischen Akademie im Juni 2001
empfingen Piero di Betto, Bürgermeister von Montepulciano,
und Werner Lohmann, Rektor der Musikhochschule Köln, zahlreiche
Ehrengäste, darunter Fritjof von Nordenskjöld, Botschafter
der Bundesrepublik, und etliche der Sponsoren. Doch einer war nicht
gekommen: Hans Werner Henze. Lohmann hatte seinen früheren
Kölner Kollegen zwar vorab in Rom besucht und persönlich
eingeladen. Doch Henze war auch bei dieser Einladung seinem Eid,
nie mehr einen Fuß in die Stadt zu setzen, treu geblieben
(Henze und die Poliziani, so nennen sich die Einwohner von Montepulciano
selber, hatten sich schon vor Jahren im Zusammenhang mit Cantiere-Angelegenheiten
überworfen).
Auch wenn Henze nicht persönlich anwesend war, so war er dennoch
allgegenwärtig. Schließlich hatte ihn während eines
Cantiere vor knapp zwanzig Jahren der damalige Rektor der Kölner
Hochschule, Franz Müller-Heuser, für eine Professur für
Komposition in Köln gewinnen können. Henze schließlich
verdankten die Kölner Studenten, Professoren und Dozenten den
engen Kontakt zum Cantiere Internazionale dellArte,
lange Jahre eine (positive) Ausnahmeerscheinung unter den vielen
Musikfestivals, die seit den 80er-Jahren allerorts aus dem Boden
schossen.
Erste Ideen für eine Akademie in Montepulciano gehen noch
auf diese Zeit mit Henze in Köln zurück. Als Lohmann 1997
Müller-Heuser als Rektor nachfolgte, gab es außer Plänen
und Kontakten wenig Konkretes. Angeregt durch eine Arbeitsphase
der Kölner Opernschule, die hier Alcina probte
und aufführte, bündelte Lohmann noch einmal die Kräfte.
Vor allem gelang es ihm, Sponsoren zu finden. Denn Landesmittel
aus Nordrhein-Westfalen konnten aus rechtlichen Gründen für
Italien nicht gegeben werden. EU-Mittel im siebenstelligen Bereich
waren zugesagt, fielen dann aber von heute auf morgen weg, als ein
Erdbeben die Gegend um Assisi verwüstete und das Geld für
Hilfe und Wiederaufbau umgeleitet wurde. Mit Hilfe von Stiftungen
und privaten Geldgebern brachte Lohmann einen Etat von über
zwei Millionen für die Renovierung des Palazzo zusammen. Im
Gegenzug verlieh der Besitzer des Palazzo, die Stadt Montepulciano,
der Kölner Hochschule ein Alleinnutzungsrecht für die
Dauer von 30 Jahren. Die Dozenten für die Europäischen
Meisterkurse arbeiten bis heute kostenlos, angezogen von der
Aura der Stadt, der Landschaft, vielleicht auch des Cantiere. Die
Meisterkurse sind ein Teil und niemals das Ganze, betont Lohmann.
Einen Ort für Meisterkurse hätten wir einfacher
haben können.
Auch wenn sich Lohmann mit Henzes kulturpolitischen Ideen aus den
Siebzigern nicht identifiziert, eine enge Verzahnung mit dem Cantiere,
mit der örtlichen Musikschule und dem kulturellen Leben der
Stadt zählt zum Konzept der Akadamie. Wir wollen uns
hier einbringen und nicht eine Insel sein, die völlig losgelöst
ist von allem anderen hier. Doch damit hier eine lebendige
Akademie entsteht, wird Austausch wichtig sein: nicht nur zwischen
Montepulciano und Köln, sondern auch auf dem Level Europa:
Ab Herbst, so Lohmann, können praktisch alle
europäischen Hochschulen als Einzelhochschule, als Verbund,
als Klasse, als Ensemble, als Projekt hierher kommen, die Räume
gegen einen Unkos-tenbeitrag in Anspruch nehmen und hier arbeiten.
Die erste Institution wird das Mozarteum sein, dann will die Basler
Hochschule hier arbeiten.
In ein, zwei Jahren will die Akademie ein Ganzjahresbetrieb sein,
bei dem Meisterkurse nur der Spezialfall unter vielen anderen Kulturprojekten
sein soll. Dabei wird durchaus über den Bereich der Musik hinaus
gedacht, wie angestrebte Kooperationen mit der Villa Romana in Florenz
oder der Sprachuniversität in Siena zeigen. Vergleichbar der
Villa Massimo in Rom sollen auch Stipendien vergeben werden. Der
Europäischen Akademie Montepulciano bietet sich jetzt die Chance
zu einer bedeutenden europäischen Musikwerkstatt zu werden.
Institutionen und Netzwerke stehen zur Verfügung, wie der Deutsche
Akademische Austauschdienst, das Sokrates/Erasmus-Programm und andere
europäische Geldmittel.
Das Eröffnungsfestival selber hatte diesen europäischen
Gedanken bereits verwirklicht und Studenten und Musiker aus verschiedenen
EU-Ländern eingeladen. Vier Tage Konzerte im Teatro Poliziano,
in der Kirche San Biagio, auf der Piazza, im Palazzo Ricci oder
im Dom hinterließen jedoch einen zwiespältigen Eindruck.
Einzelne Aufführungen zeigten das hohe Niveau der jungen Musiker
wie zum Beispiel ein Kammermusikkonzert mit Haydns Lerchenquartett
und dem Sextett von Brahms in B-Dur. Oder auch eine etwas allzu
komödienhaft inszenierte, im Ambiente des kleinen
Barocktheaters aber doch sehr wirkungsvoll aufgeführte Così
fan tutte. Sinfonisches von Mozart, Weber oder Schubert war
dagegen einfach Festmusik vor Renaissance-Kulisse. Es fehlte jede
musikalische Reminiszenz an das Gastgeberland Italien das
ist schließlich nicht nur eine Frage der Höflichkeit,
sondern auch des Konzepts. Italien durfte bestenfalls die folkloristisch-kulinarischen
Ingredienzien zum Festival beisteuern, die Kunst kam aus Deutschland.
Noch auffallender aber war: Es fehlte das 20. Jahrhundert. Kein
Scelsi, kein Dallapiccola, kein Nono, weder Berio noch Henze. Nicht
einmal Klassiker der Moderne wie Schönberg, Strawinsky oder
Britten waren bei der Programmierung in Betracht gezogen worden.
Trotz dieser Rückwärtsgewandtheit lag Aufbruchstimmung
in der Luft. Der Palast steht, die Finanzierung der Akademie scheint
gesichert. Werner Lohmann, der als Rektor nicht wieder gewählt
wurde und sein Amt noch in diesem Jahr an Josef Protschka abgibt,
kann den Palazzo komplett renoviert und voll funktionstüchtig
an die zukünftigen Nutzer übergeben. Die Inhalte der Akademiearbeit
sind dagegen noch nicht festgelegt. Sie liegen in den Händen
derer, die sich dort engagieren werden. Das ist gut so, auch wenn
noch manche Frage offen bleibt. Zum Beispiel: Wer vergibt die Stipendien,
wer wählt die Hochschulen aus, die zur Nutzung in Betracht
kommen, wer hält letztlich Unterricht in Montepulciano?
Noch einmal Hans Werner Henze: Es war sicher besser, dass er nicht
zum Festakt gekommen war, denn damit wäre der Akademie automatisch
sein Stempel aufgedrückt worden. Ohne den Übervater als
Schirmherr wird es der Europäischen Akademie leichter fallen,
zu verdeutlichen, was sie Neues will.