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nmz-archiv
nmz 2001/07-08 | Seite 43
50. Jahrgang | Juli/August
Jazz, Rock, Pop
Als Pops den Pop erfand
Der Pionier: ein Puzzle zum 100. von Louis Satchmo
Armstrong
I was born long long ago Juli, the 4th 19-0-0 back otown
down in James Alley just a boy of New Orleans, sang
Louis Satchmo Armstrong im Mai 1970. Der zweite Teil
der Aussage war korrekt, der erste Teil freilich war eine Lüge,
die bis in die späten 80er-Jahre hinein weiterverbreitet wurde.
Satchmo traf keine Schuld, hatte er doch selbst bis zu seinem
Lebensende an dieses Geburtsdatum geglaubt. Noch zur Jahrhundertwende
war es bei armen Schwarzen Brauch gewesen, ein ehrenvolles Datum
als Geburtsdatum anzunehmen. Das Jahr sei ähnlich flexibel
gewesen, berichtet sein Biograf Laurence Bergreen. Erst als sich
ein Forscher auf die Suche nach seinem Taufschein machte, konnte
diese Showbiz-Legende zerstört werden: Als niger, illegitimus
wurde Louis Armstrong am 4. August 1901 geboren.
What a wonderful world
Ich erinnere mich an den Frühling 1968, als eine beseelte,
leicht melancholische Stimme aus dem alten Radio erklang und etwas
von einer wunderbaren Welt sang. Ein gewisser Louis
Armstrong sei das gewesen, verkündete der Sprecher. Nie gehört.
Ende des Jahres lief mir dann noch ein anderer Louis über den
Weg, King Louie, der König des Affenstaats, der Jungle-V.I.P.
im Dschungelbuch. Und obwohl dieser König eindeutig
mit der Stimme von Klaus Havenstein sprach, ließ mich der
Gedanke nicht los, dass die beiden Louis irgendwas miteinander zu
tun haben könnten. Zwei Jahre später schlich ich mich
trotz meines jungen Alters in meinen ersten James-Bond-Film:
Im Geheimdienst ihrer Majes- tät. Heimlich zerdrückte
ich einige Tränen, als dort auf der Leinwand Diana Rigg alias
Emma Peel starb. Und wieder erklang dazu diese überirdische
Stimme: We Have All The Time In The World. Alle Zeit
der Welt zu haben welch ein Mantra! Endlichkeit und Ewigkeit
waren für mich verschwis- tert. Als im Juli 1971 der
inzwischen sanft entschlafene Melody Maker Satchmos
Tod zum Aufmacher wählte, wusste ich: Pops war
Pop.
Mackie Messer
Seit den frühen Fifties war Pops zur lebenden Jukebox
geworden. Als Serenader sang er Gassenhauer wie La
Vie En Rose, Cest Si Bon oder Blueberry
Hill. Als er im Mai 1964 mit Hello, Dolly! die
Beatles mit Cant Buy Me Love von der Spitze der
amerikanischen Hitparade verdrängte, konnte er auf eine über
40-jährige Karriere als King of Jazz zurückblicken.
Die Jazz-Puristen hatten sich freilich zu dieser Zeit schon längst
von Satchmo mit Grausen abgewandt. Etwas zu vorschnell,
denn wer etwa genau hineinhörte in seine Version von Kurt Weills
3-Groschen-Moritat von Mackie Messer, der konnte einen
großen barbarischen Künstler entdecken, die
schwarze Stimme Amerikas. Ich hab Louis Version
von Mack The Knife entdeckt, schreibt Ralph Ellison
an Albert Murray, Shakespeare hat Caliban erfunden oder sich
selbst in ihn verwandelt. Wer zum Teufel hat sich bloß Louis
ausgedacht? Manche von den Bop-Boys halten ihn für Caliban,
aber wenn er das wirklich ist, dann ist er eine Maske für einen
lyrischen Dichter, der sehr viel größer ist als die meisten,
die heutzutage schreiben. Mann und Maske, Niveau und Geschmack,
und alles versteckt sich hinter Kaspereien und derben Manieren
der amerikanische Witz, Mann. Nur die Version eines anderen
Stimmenimitators, Bertolt Brecht aus Augsburg, konnte es mit diesem
schwarzen Mackie Messer aufnehmen.
Mad about the boy
Im Oktober 1924 tauchte Louis Armstrong zum ersten Mal in einem
New Yorker Studio auf, als Mitglied von Fletcher Hendersons Big
Band. So etwas hatte man im Big Apple noch nie gehört, echten
Jazz. Selbst die Musiker spielten verrückt. Der Kornettist
Rex Stewart über dieses Ereignis: Dann kam Louis Armstrong
in die Stadt. Ich wurde verrückt wie alle anderen auch. Ich
versuchte, wie Louis zu sprechen, wie Louis zu gehen, wie Louis
zu essen, wie Louis zu schlafen. Ein Jahrzehnt später
wird in Paris auch das Multi-Talent Boris Vian dem King of
Jazz verfallen, er wird seinem Idol an der Trompete nacheifern
und sich ganz und gar dem Jazz verschreiben. Wie der gerade aus
dem Nebel der Vergessenheit zurückgekehrte Henri Salvador damals
schrieb: Er war versessen auf Jazz, er lebte nur durch den
Jazz, er hörte Jazz nicht, er drückte sich im Jazz aus.
Hotter than that
Louis Armstrong war die Stimme Amerikas, noch lange vor Bing Crosby,
Frank Sinatra oder Bob Dylan. Ohne ihn würde Pop-Musik heute
anders klingen.
Satchmo erfand den Scat-Gesang (Heebie Jeebies),
veredelte Tin-Pan-Alley & Broadway-Schlager wie Stardust
in Jazz-Standards und erschuf auf Schallplatte den Jazz-Solisten,
den Solitär im Ensemble. Jenseits von Vaudeville & Bordell
benutzte er das Studio in den Roaring Twenties zum ers- ten Mal
in der Geschichte der 78er-Schallplatte als Musik-Labor. Um bei
OKeh mustergültige Aufnahmen (Hot Five
& Hot Seven-Recordings) zu schaffen die anno
2001 mit einem Grammy ausgezeichnet wurden! ,
wie viel, viel später im Studio Frankieboy, Miles Davis, Glenn
Gould, Robert Zimmermann, Phil Spector oder John, Paul, George &
Ringo. Als glorios extrovertierte Evokation einer Grillparty
im Freien hat etwa der Jazzkritiker Ian Carr Struttin
With Some Barbecue von 1927 bezeichnet: Ihr Herzstück
ist ein Armstrong-Solo über Offbeats der Rhythmusgruppe. Mit
komplexen, wirbelnden Phrasen, dramatischen Sprüngen ins hohe
Register und einem extrem komplizierten Trompeten-Break erschließt
er neues Territorium. Er geht an die Grenzen des Möglichen.
Am verrücktesten ist die Koda: Die Rhythmusgruppe verstummt,
und plötzlich klingt das Stück privat und introvertiert,
denn Trompete, Posaune und Klarinette spielen sehr leise harmonisierte
Phrasen, unterbrochen von kurzem Schweigen.